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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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hinterließ sie Exemplare von L’Union Ouvrière und Plakate. Und da sie keine Empfehlungs- oder Einführungsschreiben besaß, suchte sie die Arbeiter in den von ihnen besuchten Wirtschaften auf.
    An dem kleinen Platz vor der Kirche von Avallon, deren Heiligen- und Jungfrauenbildnisse so bunt waren, daß sie an die indianischen Kapellen in Peru denken mußte, befanden sich zwei Schankstuben. Sie betrat L’Etoile du Jour in der Abenddämmerung. Das Herdfeuer rötete die Gesichter der Gäste und füllte den dichtbesetzten Raum mit Rauch. Sie war die einzige Frau. Auf laute Ausrufe folgten Getuschel und verhaltenes Gelächter. Zwischen den weißen Wölkchen der Tabakspfeifen sah sie kleine blinzelnde Augen, lüsterne Gesichter. Mäanderndes Gemurmel geleitete sie, während sie sich ihren Weg durch die schwitzende Menge bahnte, die ihr Platz machte und sich hinter ihr wieder schloß.
    Sie fühlte kein Unbehagen. Als der Wirt des Lokals, ein gedrungener Mann mit salbungsvollen Manieren, ihr entgegentrat und sie fragte, wen sie suche, antwortete sie schneidend: niemanden.
    »Warum fragen Sie mich das?« fragte sie so laut zurück, daß alle sie hörten. »Ist Frauen der Zutritt hier nicht erlaubt?«
    »Anständigen Frauen wohl«, rief eine schnapsselige Stimme von der Theke her. »Hetären nicht.«
    ›Der örtliche Dichter‹, dachte Flora.
    »Ich bin keine Hure, meine Herren«, erklärte sie ohne Zorn, und sogleich breitete sich Stille aus. »Ich bin eine Freundin der Arbeiter. Ich möchte euch helfen, die Ketten der Ausbeutung zu sprengen.«
    An ihren Gesichtern konnte sie ablesen, daß sie in ihr jetzt keine Dirne mehr, sondern eine Spinnerin sahen. Sie gab sich nicht geschlagen und redete zu ihnen. Die Arbeiter hörten ihr aus Neugier zu, so wie man dem Gesang eines unbekannten Vogels lauscht, ohne daß sie ihren Worten große Aufmerksamkeit schenkten, die sie lieber auf ihre Kleidung, ihre Hände, ihren Mund, ihre Taille und ihre Brust richteten. Es waren müde Männer mit erschöpften Gesichtern, die nichts anderes wollten, als ihr Leben vergessen. Nach kurzer Zeit, als die Neugier gestillt war, nahmen einige wieder ihre Gespräche auf und vergaßen sie. Im zweiten Lokal von Avallon, La Joie , einer kleinen Höhle mit verrußten Wänden und einem Kamin, in dem die letzte Glut vor sich hin glomm, waren die sechs oder sieben Gäste zu betrunken, als daß es gelohnt hätte, durch Reden Zeit mit ihnen zu verlieren.
    Sie kehrte mit dem bitteren Geschmack im Mund in die Herberge zurück, der sie ab und zu heimsuchte. Warum, Florita? Wegen der Zeit, die du in Avallon, diesem Dorf mit unwissenden Bauern, verloren hattest? Nein. Weil der Besuch in diesen Wirtshäusern deine Erinnerung aufgerührt hatte und dir jetzt die Alkoholdünste der mit Trinkern, Spielern und üblem Gesindel gefüllten Lasterhöhlen um die Place Maubert in die Nase stiegen, zwischen denen sich deine Kindheit und Jugend abgespielt hatten. Und die vier Jahre deiner Ehe, Florita. Was für eine Angst vor den Trinkern! Sie trieben sich in der Nachbarschaft der Rue du Fouarre herum, vor den Türen der Wirtschaften und an den Straßenecken; sie schliefen ihren Rausch in Hauseingängen und auf den Bürgersteigen aus, rülpsend, von Erbrochenem besudelt, fluchend noch im Schlaf. Sie bekam Gänsehaut, wenn sie daran dachte, wie sie im Dunkeln ausder Lithographiewerkstatt des Meisters André Chazal heimkehrte, wo man sie auf Bitten ihrer Mutter kurz nach ihrem sechzehnten Geburtstag als Lehrling aufgenommen hatte, um das Handwerk des Kolorierens zu lernen. Deine gute Anlage zum Zeichnen war dir dabei von Nutzen. Unter anderen Umständen wärst du vielleicht Malerin geworden, Andalusierin. Aber sie bereute es nicht, in ihrer Jugend Arbeiterin gewesen zu sein. Am Anfang fand sie es wunderbar und befreiend, die Tage nicht eingesperrt in der schäbigen Höhle der Rue du Fouarre verbringen zu müssen, früh aus dem Haus zu gehen und zusammen mit den etwa zwanzig Arbeiterinnen von Meister Chazal zwölf Stunden in der Werkstatt zu arbeiten, eine wahre Universität, an der gelehrt wurde, was es hieß, in Frankreich Arbeiterin zu sein. Vom Meister erzählten die Mädchen der Werkstatt ihr, er habe einen berühmten Bruder, Antoine, ein Blumen- und Tiermaler im Jardin des Plantes. André Chazal trank und spielte gern und verlor viel Zeit in den Wirtshäusern. Er hatte die Gewohnheit, wenn er betrunken war und manchmal auch wenn er es nicht war, sich an den Arbeiterinnen

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