Das Paradies ist anderswo
Dort provozierte sie einen fast mit Prügeln endenden Streit zwischen einem spahi , einem gerade aus Algerien heimgekehrten Kolonialsoldaten, und einem jungen Mann der Handelsmarine, die auf ihre Aufforderung hin die Frage erörtert hatten, welches der beiden Gewerbe nützlicher sei für die Gesellschaft. Der Seemann erklärte, Schiffe würden Passagiere und Waren transportieren und damit den Handel fördern; wozu aber dienten die Soldaten, außer zumTöten? Der spahi zeigte empört seine Narben und erwiderte, die Armee habe gerade für Frankreich in Nordafrika eine Kolonie gewonnen, die dreimal so groß sei wie das Mutterland. Als er in seiner Erregung grob zu werden begann, brachte Flora ihn zum Schweigen:
»Sie sind der lebende Beweis dafür, daß Frankreichs Armee die Rekruten noch immer wie zu Zeiten Napoleons verroht.«
Es fehlten sechs Stunden bis Carcassonne. Sie setzte sich auf eine Bank am Heck, lehnte sich an ein paar zusammengerollte Seile und schlief sofort ein. Sie träumte von Olympe. Das erste Mal, daß du von ihr träumtest, Florita, seitdem du Paris vor sieben Monaten verlassen hattest.
Es war ein angenehmer, zärtlicher, leicht erregender, wehmütiger Traum. Du hattest nur gute Erinnerungen an diese Freundin, der du so viel verdanktest. Aber du bedauertest nicht, daß du mit Olympe bei deiner Rückkehr aus England, im Herbst 1839, so jäh gebrochen hattest, denn das hätte bedeutet, den Kreuzzug zu bereuen, den du führtest, um die Welt mit Verstand und Liebe zu verändern. Du hattest sie bei jenem Opernball kennengelernt, bei dem du als Zigeunerin verkleidet warst und diese schlanke Frau mit dem bohrenden Blick dir die Hand geküßt hatte, aber deine Freundschaft mit Olympe Maleszewska begann erst Monate später. Sie war Enkelin eines berühmten Orientalisten und Professors an der Sorbonne und arbeitete für die Befreiung Polens vom Joch des russischen Imperiums. Sie gehörte dem Polnischen Nationalkomitee an, der Organisation der Exilanten in Frankreich, und war mit Leonhard Chodzko verheiratet, einem Beamten der Bibliothek von Sainte-Geneviève, Historiker und Patrioten, der zu ihren führenden Vertretern gehörte. Doch Olympe war vor allem eine Dame der großen Gesellschaft. Sie führte einen sehr bekannten Salon, der von Literaten, Künstlern und Politikern besucht wurde, und als Flora eine Einladung für die Abendgesellschaften am Donnerstag erhielt, fand sie sich ein. Das Haus war elegant, die Bewirtung exquisit,und es wimmelte nur so von berühmten Persönlichkeiten. Dort traf die Modeschauspielerin Marie Dorval mit der Romanschriftstellerin George Sand zusammen und Eugène Sue mit dem Vater der Saintsimonisten, Prosper Enfantin. Olympe kümmerte sich äußerst taktvoll und freundlich um die Gäste. Sie behandelte dich sehr herzlich und stellte dich mit lobenden Worten ihren Freunden vor. Sie hatte Fahrten einer Paria gelesen, und ihre Bewunderung für dein Buch schien ehrlich zu sein.
Da Olympe dich so inständig bat wiederzukommen, gingst du noch mehrere Male zu ihr, und immer verbrachtest du dort angenehme Augenblicke. Beim dritten oder vierten Mal, als Olympe dir im Ankleidezimmer aus dem Mantel half und dir das Haar glättete – »Nie habe ich Sie so strahlend gesehen wie heute, Flora« –, faßte sie dich plötzlich um die Taille, zog dich an sich und küßte dich auf die Lippen. Es geschah so unerwartet, daß du, glühend von Kopf bis Fuß, nicht wußtest, was du tun solltest. (Es war das erste Mal in deinem Leben, daß dir das passierte, Florita.) Schamrot, verwirrt, erstarrtest du förmlich und schautest Olympe an, ohne etwas zu sagen. »Wenn Sie es noch nicht gemerkt haben, dann wissen Sie jetzt, daß ich Sie liebe«, sagte Olympe lachend. Dann faßte sie dich bei der Hand und zog dich fort zur Begegnung mit den anderen Gästen.
Später hattest du dich oft gefragt, warum du an jenem Abend, statt zu reagieren, wie du es getan hättest, wenn anstelle von Olympe dich plötzlich ein Mann geküßt hätte – du hättest ihn geohrfeigt, hättest sofort das Haus verlassen –, in der Gesellschaft geblieben warst, verstört und verlegen, doch nicht verärgert und ohne den Wunsch zu gehen. Einfache Neugier oder etwas mehr? Was hatte das zu bedeuten, Andalusierin? Was würde jetzt geschehen? Als du dich zwei Stunden später verabschieden wolltest, nahm die Hausherrin dich am Arm und führte dich zum Ankleidezimmer. Sie half dir, den Mantel anzuziehen und den kleinen Hut mit Schleier
Weitere Kostenlose Bücher