Das Paradies ist anderswo
Instrument als junger Mann beherrschen gelernt, auf den Schiffen, als er in der Handelsmarine diente. Seine Musik füllte die geistige Leere, beruhigte ihn bei Anfällen von Verzweiflung oder Niedergeschlagenheit, und wenn er in ein Bild oder in eine Skulptur vertieft war – was bei seinem schlechten Sehvermögen jetzt selten geschah –, schenkte sie ihm Zuversicht, Ideen, etwas von dem alten Willen, sich der schwer erreichbaren Vollkommenheit zu nähern. War es unerwartet, so zu sterben, Paul? Auf einer verlorenen kleinen Insel, inmitten des Pazifiks. Auf den Marquesas, der abgelegensten Region der Welt. Na ja, du hattest es seit langem beschlossen: Du wolltest als Wilder unter Wilden sterben. Doch dann erinnerte er sich an die blinde Alte, die ihm das Gefühl gegeben hatte, ein Fremder zu sein.
Sie war vor einigen Wochen aufgetaucht, auf einen Stock gestützt, aus dem Nirgendwo, zur Stunde der Abenddämmerung, als Koke sich im oberen Geschoß ans Fenster stellte, um mit angestrengten Augen die öde Insel Hanakee und die Bucht der Verräter zu betrachten, die sich in der untergehenden Sonne rosa färbten. Die blinde Alte trat in den Garten, begleitet vom Gebell der Hunde und vom Miauen der beiden Katzen, und stieß laute Worte in Maori aus, die Koke ihre Anwesenheit zu erkennen gaben. Sie wirkte wie ein unbestimmtes Etwas, ein ungestaltes Wesen, kaum wie eine Frau. Sie war in geflickte, mit Stricken zusammengehaltene Lumpen gehüllt, die wahrscheinlich aus dem Müll stammten. Mit Hilfe des Stockes – sie klopfte rasch mit ihm rechts und links auf den Boden – fand sie den Weg zum Haus und mysteriöserweise zu Paul, der ihr entgegenging. Sie standen einander gegenüber, im Bildhaueratelier, genau dort, wo Koke sich jetzt befand und halbtot vor Kälte die Angst mit Absinth bekämpfte. War sie blind oder tat sie nur so? Als sie nahe vor ihm stand, sah er ihre weißliche Hornhaut. Ja, sie war blind. Bevor Paul den Mund öffnen konnte, hob die Frau, die ihn hatte kommen hören, die Hand und berührte seine nackte Brust. Sie befühlteruhig seine Arme, die Schultern, den Bauchnabel. Dann öffnete sie den Pareo, fuhr ihm über den Bauch und nahm seine Hoden und den Penis in die Hand. Sie wog sie, als wollte sie sie einer Prüfung unterziehen. Dann verzog sie ihr Gesicht und rief angewidert aus: » Popa’a .« Es war ein Ausdruck, den Koke kannte; die Maori bezeichneten damit die Europäer. Ohne ein weiteres Wort, ohne auf das Essen oder die Gabe zu warten, die sie gesucht hatte, machte die blinde Alte kehrt und ging tastend davon. Das warst du für sie: ein Fremder mit vermummtem Phallus. Auch darin warst du gescheitert, Koke.
Er erwachte am nächsten Morgen, sein Akkordeon in den Armen. Er war auf dem Tisch mit den Gläsern und Flaschen eingeschlafen, die jetzt auf dem Boden verstreut lagen. Das Wasser floß allmählich aus dem Atelier ab, aber um Koke herum war alles Trostlosigkeit und Verheerung. Doch das Haus der Wonnen hatte dem Hurrikan standgehalten, wenn auch beschädigt und mit zum Teil abgedecktem Dach. Und hoch oben, an einem blaßblauen Himmel, begann eine wiedererwachte Sonne die Erde zu erwärmen.
XIX
Die monströse Stadt
Béziers und Carcassonne, August-September 1844
Bisweilen verglich Flora ihre Reise durch den Südosten Frankreichs mit der Reise von Vergil und Dante durch die Hölle, denn es gab auf ihrer Route immer eine Stadt, die noch schmutziger, häßlicher und niederträchtiger war als die anderen zuvor. Im abscheulichen Béziers zum Beispiel, wo sie im unerträglichen Hôtel des Postes übernachtete, in dem nicht einer der Kellner, nicht einmal der maître , Französisch sprach, nur Okzitanisch, erhielt sie keine Erlaubnis, in irgendeiner Fabrik oder Werkstatt eine Versammlung abzuhalten. Unternehmer und Arbeiter versperrten ihr sämtliche Türen aus Angst vor der Obrigkeit. Und die einzigen acht Arbeiter, die bereit waren, mit ihr zu sprechen, taten es unter so vielen Vorsichtsmaßnahmen – sie kamen nachts ins Hotel, durch die Hintertür – und hatten so große Angst, ihre Arbeit zu verlieren, daß Flora nicht einmal versuchte, ihnen den Vorschlag zu machen, sie sollten ein Komitee der Arbeiterunion gründen.
Sie hielt sich nur zwei Tage in Béziers auf, die letzten Augusttage 1844. Als sie das Postschiff nach Carcassonne bestieg, hatte sie das Gefühl, einem Gefängnis entronnen zu sein. Um nicht seekrank zu werden, blieb sie an Deck, unter den Passagieren, die keine Kabine hatten.
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