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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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August 1883 dein Chef in der Finanzagentur zu sich rief und dir mit bebender Stimme und betrübter Miene erklärte, er könne dich angesichts der kritischen Situation »nicht zurückhalten«, tatest du etwas, das ihm die Sprache verschlug: Du küßtest ihm die Hände. Während du gleichzeitig euphorisch zu ihm sagtest: »Danke, patron . Sie haben soeben einen wahren Künstler aus mir gemacht.« Außer dir vor Glück, liefst du zu Mette, um ihr mitzuteilen,daß du von nun an nie wieder ein Büro betreten würdest. Du würdest nur noch malen. Deine Frau, stumm und bleich, blinzelte eine ganze Weile ungläubig, bevor sie dir bewußtlos vor die Füße fiel.
    »Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich schon sehr geändert«, fügte Paul hinzu. »Ich trank mehr als vorher. Cognac zu Hause und Absinth im Nouvelle Athènes. Ich verbrachte viel Zeit allein, mit Akkordeonspielen, weil mich das zum Malen anregte. Und ich fing an, mich wie ein Bohemien zu kleiden, extravagant, um die Bürger zu provozieren. Ich war fünfunddreißig Jahre alt und begann, mein wahres Leben zu leben, meine Freunde.«
    Plötzlich hörte der Donner auf, und der Regen ließ etwas nach. Die dreißig Wasserfälle, die an Regentagen von den Bergen Temetiu und Feani auf Atuona hinabströmten, hatten sich vervielfacht, und der Make Make war über die Ufer getreten. Es dauerte nicht lange, und eine Wasserstraße drang in das Atelier ein und überflutete es. Ben Varney zeigte auf den Dunst, der sie umgab, und säuselte: »Wie auf einem Walfangschiff.« In wenigen Minuten steckten sie bis über die Knöchel in dem schlammigen Sturzbach. Sie gingen hinaus, völlig durchnäßt. Das ganze Gebiet stand unter Wasser, und ein neuer, eben entstandener Fluß, der Zweige, Baumstämme, Grasbüschel, Erdbrocken, Blechdosen mit sich führte, strömte auf die Hauptstraße zu und riß den Garten des Hauses der Wonnen mit sich.
    »Wißt ihr, was dieses Etwas da hinten ist?« Tioka zeigte auf einige Flecken, die dichter waren als die niedrigen, über Atuona hängenden Wolken. »Was das reißende Wasser zum Meer hin treibt? Mein Haus. Ich hoffe, es treibt nicht auch meine vahine und meine Kinder dorthin.«
    Er sprach unaufgeregt, mit dem stoischen Gleichmut der Marquesaner, der Koke seit seinem ersten Tag in Hiva Oa beeindruckte. Tioka machte eine Abschiedsgeste und entfernte sich, bis zu den Knien im Wasser watend. Die Regenschleier und die Wolken verschluckten ihn im Nu. ImUnterschied zu ihm reagierten Ky Dong, Poseidon Frébault und Ben Varney, schlagartig nüchtern geworden, mit Schrecken und Bestürzung. Was sollten sie tun? Am besten so rasch wie möglich nach ihren Familien sehen und vielleicht Zuflucht auf dem Friedhofshügel suchen. Im Flachland waren sie den Attacken des Hurrikans sehr viel stärker ausgesetzt. Wenn auch noch eine Flutwelle käme, dann war es aus mit Atuona.
    »Du mußt mit uns kommen, Paul«, erklärte Ky Dong nachdrücklich. «Diese Hütte wird nicht standhalten. Das ist kein Sturm. Es ist ein Hurrikan, ein Zyklon. Du wirst sicherer sein bei uns dort oben, auf dem Friedhof.«
    »Ich mit meinen Beinen soll mich in diesen Schlamm werfen?« sagte er lachend. »Ich kann doch kaum gehen, meine Freunde. Geht ihr, geht ruhig. Ich bleibe hier und warte. Das Ende der Welt ist mein Element, meine Herren!«
    Er sah sie mit eingezogenen Köpfen, platschend, das Wasser bis zu den Knien, auf den jetzt überfluteten Pfad zugehen, der hinter der Sträucherpalisade zum Rückgrat Atuonas wurde. Würden sie heil ankommen? Ja, sie hatten Erfahrung mit diesen klimatischen Wechselfällen. Und du, Paul? Ky Dong hatte recht, das Haus der Wonnen war eine prekäre Konstruktion aus Bambus, Palmblättern und Holzbalken, die Wind und Wasser bisher nur wie durch ein Wunder getrotzt hatte. Wenn das noch lange dauerte, würde sie einstürzen und fortgeschwemmt werden und du mit ihr. War das eine annehmbare Art zu sterben? Ein bißchen lächerlich vielleicht. Aber es war nicht weniger lächerlich, an Lungenentzündung zu sterben. Oder indem man allmählich verfiel, durch die Schuld der unaussprechlichen Krankheit. Da es im Haus der Wonnen keinen einzigen Winkel gab, der trocken und vor den Prankenhieben des Windes und des Regens geschützt gewesen wäre, ging er mit schleppenden Schritten – die Beine taten ihm jetzt sehr weh –, um sich ein weiteres Glas Absinth einzuschenken. Er nahm sein durchweichtes Akkordeon und begann,mechanisch zu spielen. Er hatte dieses schwierige

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