Das Paradies ist anderswo
der Stadt verbrachte, waren die örtlichen Phalanstère- Anhänger – Anwälte, Agrarexperten, Ärzte, Journalisten, Apotheker, Beamte, die sich selbst chevaliers nannten – eine ständige Quelle von Problemen. Ihr Machthunger verführte sie dazu, eine bewaffnete Aktion im ganzen französischen Süden zu planen. Sie behaupteten, viele Militärs und ganze Garnisonen stünden auf ihrer Seite. Gleich auf der ersten Versammlung übte Flora heftige Kritik an ihnen. Ihr Radikalismus, sagte sie, könne bestenfalls dazu dienen, einige Bürger in der Regierung durch andere zu ersetzen, ohne eine Änderung des sozialen Systems herbeizuführen, und schlimmstenfalls dazu, blutige Repressalien auszulösen, die das Ende der entstehenden Arbeiterbewegung wären. Entscheidend sei die soziale Revolution, nicht die politische Macht. Ihre Verschwörungspläne, ihre Gewaltphantasien verwirrten die Arbeiter, entfernten sie von den Zielen, verbrauchten sie in einer subversiven, rein politischen Aktion, bei der sie Gefahr liefen, von der Armee in einem für die Sache sinnlosen Akt geopfert zu werden. Die chevaliers besaßen Einfluß im Arbeitermilieu und nahmen an den Versammlungen Floras mit den Arbeitern der Webereien und Tuchfabrikenteil. Ihre Anwesenheit schüchterte die Armen ein, die kaum wagten, vor diesen Bürgern ihre Meinung zu äußern. Statt die Erfolge der Arbeiterunion zu erklären, mußtest du stundenlang bis zur Erschöpfung diese Politikaster widerlegen, die den Arbeitern mit ihren Plänen einer bewaffneten Erhebung, für die sie, wie sie behaupteten, an strategischen Orten Gewehre und Pulverfässer versteckt hatten, den Verstand vernebelten.
»Was für einen Unterschied gäbe es zwischen einer Regierung von Fourieristen und der jetzigen?« rief Madamela-Colère empört aus. »Was für eine Verbesserung kann es für die Arbeiter bedeuten, wenn sie von Ihnen statt von den anderen ausgebeutet werden? Es geht nicht darum, irgendwie an die Macht zu gelangen, sondern ein für allemal der Ausbeutung und der Ungleichheit ein Ende zu machen.«
Abends kehrte sie so erschöpft ins Hôtel Bonnet zurück wie einst in London, in jenen hektischen Sommertagen 1839, in denen Flora vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung in stolzer Verachtung der ärztlichen Ratschläge diese monströse Stadt mit ihren zwei Millionen Einwohnern erkundete, Hauptstadt des größten Imperiums des Planeten, Sitz der dynamischsten Fabriken und der gewaltigsten Vermögen, um der Welt zu zeigen, daß sich hinter der Fassade von Wohlstand, Luxus und Macht die abscheulichste Ausbeutung, die schlimmsten Ungerechtigkeiten verbargen, daß die leidende Menschheit Niederträchtigkeiten und Schikanen ertragen mußte, damit eine Handvoll Aristokraten und Besitzende kaum vorstellbaren Reichtum anhäufen konnte.
Doch im Unterschied zu heute, Florita, warst du 1839, obwohl du schon damals diese Kugel in der Brust trugst, nach ein paar Stunden Schlaf erholt und gerüstet für einen neuen, erfahrungsreichen Londoner Tag, bereit, dich in Lasterhöhlen zu wagen, in die kein Tourist seinen Fuß setzte und von denen nichts in den Chroniken der Reisenden stand, die begeistert die Schönheiten der Salons undClubs, die Sauberkeit der Parks, die öffentliche Gasbeleuchtung im West End und den Zauber der Bälle, Bankette, Abendgesellschaften beschrieben, mit denen die adligen Parasiten ihre Muße verbrachten. Jetzt standest du so müde auf, wie du dich hingelegt hattest, und mußtest tagsüber deine zum Glück unversehrt gebliebene eiserne Hartnäckigkeit mobilisieren, um das Programm bewältigen zu können, das du dir auferlegt hattest. Am quälendsten war nicht die Kugel; es waren die Koliken und der Schmerz in der Gebärmutter, gegen die kein Beruhigungsmittel mehr half.
Bei allem Haß, den du für London und England fühltest, seitdem du in deinen jungen Jahren dort gelebt und für die Familie Spence gearbeitet hattest, mußtest du zugeben, daß du ohne dieses Land, ohne die englischen, schottischen und irischen Arbeiter wahrscheinlich niemals begriffen hättest, daß die Befreiung der Frau und ihre Gleichstellung mit dem Mann nur möglich war, wenn man ihren Kampf mit dem der Arbeiter, der anderen Opfer und Ausgebeuteten, der gewaltigen Mehrheit der Menschheit, verband. Die Idee kam ihr in London dank der Chartistenbewegung. Diese forderte die gesetzliche Verabschiedung einer Volkscharta, durch die das allgemeine, geheime Wahlrecht, die jährliche Erneuerung des Parlaments
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