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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Stouvenel«, sagte Charles streng zu ihm.
    »Ich heiße nicht so«, antwortete er aufschluchzend. »Ich habe Sie angelogen, um ihr Gutes zu tun. Sie war der Mensch, den ich in dieser Welt am meisten geliebt habe.«
    »Wer sind Sie?« fragte Elise Lemonnier.
    »Mein Name tut nichts zur Sache«, sagte der Mann mit einer Stimme, in der Leid und Bitterkeit mitschwangen. »Sie kannte mich unter einem häßlichen Spitznamen, mit dem mich damals die Menschen dieser Stadt verspotteten. Der Göttliche Eunuch. Sie können ruhig über mich lachen, wenn ich Ihnen den Rücken zukehre.«

XXII

Rosafarbene Pferde
Atuona, Hiva Oa, Mai 1903
    Er wußte, daß er in die Schlußgerade seines Lebens eingebogen war, als ihm Anfang 1903 klar wurde, daß er sich in der letzten Zeit keiner Listen und Schmeicheleien mehr bedienen mußte, um die Mädchen der Schule Sainte-Anne – sie wurde von den sechs Nonnen des Ordens der Schwestern von Cluny geführt, die sich immer besorgt bekreuzigten, wenn sie ihm in Atuona begegneten – in das Haus der Wonnen zu locken. Denn die Mädchen stahlen sich immer öfter, immer zahlreicher aus der Schule davon, um ihm heimliche Besuche abzustatten. Sie kamen natürlich nicht, um dich zu besuchen, obwohl sie genau wußten, daß du, kaum waren sie im Haus und in Reichweite deiner Hände, sie an die Brüste, die Hinterbacken, das Geschlecht fassen und auffordern würdest, sich auszuziehen, wenn auch eher, um des Rituals als um des Verlangens willen, jetzt, da du ein halbblinder, invalider Mann warst. Das alles löste bei den Mädchen viel Gerenne, spitze Schreie, fröhliche Erregtheit aus, als praktizierten sie mit dir einen Sport, der riskanter war, als mit einem Maori-Kanu die Wasser der Bucht der Verräter zu durchteilen. In Wirklichkeit kamen sie, um die pornographischen Photos zu sehen, die sich für Schüler und Lehrer der Schulen der katholischen Mission und der kleinen protestantischen Schule und für die übrigen Bewohner von Atuona in ein mythisches Objekt, nachgerade in das Symbol der Sünde, verwandelt haben mußten. Und sie kamen natürlich auch, um über die Figuren im Garten zu lachen, die Bischof Joseph Martin – Pater Wollust – und seine Haushälterin und angebliche Geliebte Thérèse lächerlich machten.
    Warum sonst hätten die Mädchen jetzt mit dieser Freiheitzum Haus der Wonnen kommen sollen, wenn sie dich noch immer, wie in den ersten Monaten, wie im ersten Jahr deines Aufenthalts in Hiva Oa, als eine Gefahr betrachteten, Koke? In deinem erbärmlichen Zustand warst du kein Risiko mehr: du würdest diese eingeborenen Mädchen nicht entjungfern oder schwängern. Du hättest sie nicht lieben können, auch wenn sie es dir erlaubt hätten, denn schon seit geraumer Zeit hattest du weder Erektionen noch überhaupt einen Anflug von sexuellem Begehren. Nur ein fürchterliches Brennen und Jucken an den Beinen, nur stechende Schmerzen im Körper und dieses anfallartige Herzklopfen, das dir die Luft abschnürte.
    Pastor Vernier hatte ihn dazu gebracht, daß er zumindest für eine gewisse Zeit die Morphiuminjektionen aussetzte, an die Kokes Organismus sich gewöhnt hatte, denn sie wirkten nicht mehr gegen die Schmerzen. Gehorsam übergab er dem Ladenbesitzer Ben Varney die Spritze, um die Versuchung nicht in seiner Nähe zu haben. Doch die heißen Umschläge und die Abreibungen mit der Senfsalbe, die er aus Papeete hatte kommen lassen, milderten nicht das Brennen der Wunden an beiden Beinen, deren Gestank außerdem die Fliegen anzog. Nur die Tropfen Laudanum beruhigten ihn, ließen ihn in eine vegetative Benommenheit versinken, aus der er nur auftauchte, wenn ihn einer seiner Freunde besuchen kam – sein Nachbar Tioka, der sein Haus mittlerweile wiederaufgebaut hatte, der Annamit Ky Dong, Pastor Vernier, Frébault und Ben Varney – oder wenn die Mädchen der Nonnenschule wie ein Schwarm Vögel ins Haus einfielen, um mit glühenden Pupillen und wie Hummeln summend die Paarungen auf den erotischen Postkarten aus Port-Said zu betrachten.
    Die Anwesenheit dieser verschmitzten, schalkhaften Mädchen im Haus der Wonnen war wie ein Bad in der Jugend, etwas, das dich eine Weile von deinen Beschwerden ablenkte und dir Wohlgefühl verschaffte. Sie durften in allen Zimmern herumlaufen und alles durcheinanderbringen,und du gabst dem Koch und dem Gärtner Anweisungen, ihnen zu trinken und zu essen zu geben. Die Schwestern von Cluny hatten sie gut erzogen; soweit du es überschauen konntest, hatte keine dieser

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