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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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andere Mal. Ihre Lippen waren blutleer, so sehr hatte sie sie zusammengepreßt.
    In der Tat, kaum war Eléonore nach Lyon abgereist, verschlimmerte sich Floras Zustand. Sie erbrach Galle, die einen anhaltenden scharfen Geruch im Zimmer verbreitete, den nur Mademoiselle Alphine in ihrer endlosen Geduld ertrug; sie säuberte alles und übernahm auch morgens und abends das Waschen der Kranken. Bisweilen wurde Flora von heftigen Zuckungen geschüttelt, die sie aus dem Bett warfen, von einer Kraft bewegt, die in keinem Verhältnis zu ihrem Körper stand, der jeden Tag weniger wurde, biser schließlich nur noch ein Skelett mit tiefeingesunkenen Augen und Ärmchen wie Gräten war. Die beiden Krankenschwestern und das Ehepaar Lemonnier konnten sie nur mit großer Mühe bei diesen Krämpfen festhalten.
    Die meiste Zeit dämmerte sie jedoch dank des Opiums halb bewußtlos vor sich hin, die Augen weit geöffnet und mit einem Schimmer von Entsetzen in den Pupillen, als sähe sie Visionen. Zuweilen gab sie unzusammenhängende Monologe von sich, redete über ihre Kindheit, über Peru, London, Arequipa, über ihren Vater, über die Komitees der Arbeiterunion, oder sie führte heftige Streitgespräche mit geheimnisvollen Gegnern. »Weint nicht um mich«, hörten Elise und Charles sie einmal sagen, als sie an ihrem Bett saßen. »Tut es mir lieber gleich.«
    Seit dem Erscheinen von L’Union Ouvrière im Juni 1843 traf Flora tagtäglich mit Arbeitervereinigungen im Zentrum oder am Rand von Paris zusammen. Sie brauchte sich nicht mehr um diese Treffen zu bemühen; sie war bekannt geworden in diesen Kreisen und wurde von vielen berufsständischen und genossenschaftlichen Organisationen und bisweilen auch von Sozialisten, Fourieristen und Saintsimonisten eingeladen. Sogar ein Klub ikarischer Kommunisten unterbrach seine Geldsammlungen für den Kauf von Grund und Boden in Texas – wo sie Ikarien, das von Etienne Cabet erdachte Paradies, errichten wollten –, um ihren Theorien zuzuhören. Die Versammlung mit den Ikariern endete freilich mit einem Eklat.
    Was Flora bei diesen erregten Versammlungen, die oft bis spät in die Nacht dauerten, am meisten irritierte, war die Tatsache, daß man, statt über die großen Themen ihres Plans zu debattieren – die Arbeiterpaläste für die Alten, Kranken und Unfallopfer, die allgemeine, kostenlose Bildung, das Recht auf Arbeit, der Anwalt des Volkes –, die Zeit mit Lappalien und Belanglosigkeiten, um nicht zu sagen Dummheiten vertat. So blieb es fast nie aus, daß irgendein Arbeiter Flora vorwarf, sie habe in ihrem Büchlein die Arbeiter dafür kritisiert, daß sie »sich in den Wirtschaftenbetrinken, statt mit dem Geld, das sie für Alkohol ausgeben, Brot für ihre Kinder zu kaufen«. Bei einem Treffen in einem Dachgeschoß der impasse Jean Auber, in der Nähe der Rue Saint-Martin, warf ein Tischler namens Roly ihr an den Kopf: »Sie haben Verrat begangen, denn Sie haben der Bourgeoisie die Laster der Arbeiter offenbart.« Flora erwiderte ihm, die Wahrheit müsse die wichtigste Waffe der Proletarier sein, so wie Heuchelei und Lüge im allgemeinen die der Bürger seien. Sie jedenfalls werde weiterhin, auch wenn das manche stören mochte, das Laster Laster und die Dummheit Dummheit nennen. Die etwa zwanzig Arbeiter, die ihr zuhörten, waren nicht sehr überzeugt, aber aus Furcht vor einem ihrer Wutanfälle, die in Paris bereits legendär waren, widersprach ihr niemand, und sie belohnten sie sogar mit einem forcierten Applaus.
    Erinnerst du dich, Florita, in dem dampfenden Nebel, in dem du jetzt treibst und der dich an London denken läßt, an deine verstiegene Idee einer Hymne der Arbeiterunion, die deinen großen Kreuzzug begleiten sollte, so wie die Marseillaise die Große Revolution von 1789 begleitet hatte? Ja, du erinnerst dich, verschwommen, und auch daran, was für ein groteskes, schauriges Ende die Sache fand. Der erste Mensch, an den du dich mit der Bitte wandtest, die Hymne der Arbeiterunion zu verfassen, war Béranger. Der illustre Mann empfing dich in seinem Haus in Passy, wo er mit drei Gästen zu Mittag speiste. Halb beeindruckt, halb spöttisch hörten die vier zu, wie du ihnen erklärtest, es sei unerläßlich, so bald wie möglich – um die friedliche soziale Revolution in Gang zu setzen – diese Hymne zu haben, deren Worte die Arbeiter aufrütteln und sie zur Solidarität und zur Aktion bewegen würden. Béranger lehnte ab, mit der Begründung, er sei nicht in der Lage, ohne

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