Das Paradies ist anderswo
Blick, der sie von Kopf bis Fuß maß, ohne die Verachtung zu verhehlen, die ihm, einem Sieger, eine kleine Frau einflößte, die sich der sinnlosen Erlösung der Menschheit verschrieben hatte.
»Sind Sie sicher, daß Sie da hinuntersteigen möchten?« Er zeigte auf den Eingang zum Keller, wo sich die Werkstatt befand. »Sie werden es bereuen. Ich warne Sie.«
»Wir reden später darüber, Monsieur Cherpin.«
»Wenn Sie es überleben«, antwortete er laut lachend.
Achtzig arme Teufel hockten zusammengedrängt an drei dichten Reihen von Webstühlen in einer stickigen Höhle, wo man aufgrund der niedrigen Decke weder stehen noch sich in der Enge überhaupt bewegen konnte. Ein Rattenloch, Andalusierin. Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Der Gluthauch des Ofens, der Pestgestank und der ohrenbetäubende Lärm der gleichzeitig arbeitenden achtzig Webstühle machten sie schwindeln. Es gelang ihr nur mit Mühe, sich mit Fragen an diese halbnackten, schmutzigen, ausgemergelten, über die Webstühle gekrümmten Gestalten zu wenden, von denen viele sie schwer verstanden, weil sie nur den burgundischen Dialekt sprachen. Eine Welt aus Gespenstern, aus lebenden Toten. Sie arbeiteten von fünf Uhr morgens bis neun Uhr abends und verdienten zwei Francs täglich die Männer, achtzig Centimes die Frauen und fünfzig die Kinder unter vierzehn Jahren. Sie kehrte schweißgebadet in die Oberwelt zurück, mit Druck in den Schläfen und rasendem Herzen, und spürte deutlich die Kälte des unbequemen Gastes in ihrer Brust. MonsieurCherpin reichte ihr ein Glas Wasser, noch immer mit einem obszönen Grinsen.
»Ich habe Sie gewarnt, das ist kein Ort für eine anständige Dame, Madame Tristan.«
Madame-la-Colère, bemüht, Haltung zu bewahren, antwortete, jede Silbe betonend:
»Halten Sie, der einmal als Weber angefangen hat, es etwa für gerecht, Ihre Mitmenschen unter derartigen Bedingungen arbeiten zu lassen? Diese Werkstatt ist schlimmer als jeder Viehstall, den ich je gesehen habe.«
»Es muß wohl gerecht sein, wenn sich hier jeden Morgen Dutzende von Männern und Frauen drängen und mich anflehen, ihnen Arbeit zu geben«, brüstete sich Monsieur Cherpin. »Sie bemitleiden privilegierte Leute, Madame. Wenn ich ihnen mehr bezahlen würde, würden sie das Geld in den Wirtshäusern ausgeben und sich mit diesem Gesöff betrinken, das sie verblödet. Sie kennen sie nicht. Ich dagegen wohl, eben weil ich einer von ihnen war.«
Am nächsten Tag, nach erschöpfenden Stunden, in denen sie Exemplare der Volksausgabe von L’Union Ouvrière in den Buchhandlungen der Stadt verteilte und zwei weitere Tuchfabriken besichtigte, die genauso höllisch waren wie die Monsieur Cherpins, nahm Auguste Guyard sie mit zum Thermalbad Saint-Alban. Sein Besitzer, Doktor Emile Goin, war ein ergebener Leser ihrer Werke, insbesondere ihres Reiseberichts über Peru, Fahrten einer Paria , das er sich von ihr signieren ließ. Doktor Goin, ein schmucker Mann in den Fünfzigern mit grauen Koteletten, durchdringenden Augen, aristokratischen, doch freundlichen Manieren, lebte mit einer friedlichen Frau und drei Töchtern mit Reifrock in einem von Gärten umgebenen herrschaftlichen Haus voller Bilder und Skulpturen. Bei dem Abendessen, das er ihr offerierte, bemerkte Flora, daß der Hausherr sie bewundernd musterte. Ihn zogen nicht nur deine intellektuellen Leistungen an, sondern auch das Schwarz deines gelockten Haars, die Anmut und Lebendigkeit deiner Augen und deine harmonischen Gesichtszüge,Andalusierin. Sie fühlte sich geschmeichelt. ›Das ist ein Mann, den du vielleicht bei dir zu Hause hättest ertragen können‹, dachte sie. Doktor Goin wollte wissen, ob alles, was Flora in ihren Fahrten einer Paria erzählte, der Wahrheit entsprach oder eher von der Phantasie gefärbt war. Nein, das war es nicht; sie hatte sich sehr bemüht, nur ihre Wahrheit zu erzählen, wie Rousseau in seinen Bekenntnissen . Dann stimmte es also, daß dieses unglaubliche Abenteuer zufällig begonnen hatte, in einer Pariser Pension, anläßlich der Begegnung mit jenem Schiffskapitän, der gerade aus Peru zurückgekehrt war?
In der Tat, so hatte die Geschichte begonnen, die dich zu dem gemacht hatte, was du jetzt warst, Florita. Der gute Chabrié rettete dich davor, zu einem traurigen Parasiten mit geliehenem Leben zu werden, wie es die rundliche, staunende Ehefrau von Doktor Emile Goin war. Ja, in der Pension in Paris, in die du dich nach drei Jahren Knechtschaft und moralischer
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