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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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unterbrechen«, sagte Flora abrupt und stand auf. »Es ist sehr spät, und morgen früh fahre ich nach Saint-Etienne.«
    Als Doktor Goin ihr zum Abschied die Hand küßte, bemerkteFlora, daß seine feuchten Lippen lustvoll auf ihrer Haut verweilten. ›Er begehrt mich‹, dachte sie voll Unmut. Der Verdruß hinderte sie in ihrer letzten Nacht in Roanne am Schlafen und bewirkte, daß sie am nächsten Tag während der Zugreise nach Saint-Etienne angespannt und schlechtgelaunt war. Und in gewisser Weise verfolgte und bedrängte er sie noch die ganze Woche, die sie in dieser Stadt verblödeter und halbverblödeter Militärs und frommer, stumpfsinniger Arbeiter verbrachte, die unzugänglich waren für jeden intelligenten Gedanken, jedes altruistische Gefühl, jede gesellschaftliche Initiative. Das einzig Gute in der Woche in Saint-Etienne waren die beiden langen, zärtlichen Briefe von Eléonore Blanc, auf die sie ebenfalls ausführlich antwortete. Wie sie vermutet hatte, funktionierte das Komitee in Lyon tadellos.
    In den vier Webereien, die sie besuchte – zwei mit Männern, eine mit Frauen und eine gemischte –, erfuhr sie erstaunt, daß die Arbeiterinnen und Arbeiter zu Beginn und am Ende des Arbeitstages beteten. In einer Werkstatt forderte man sie auf, sich dem Gebet anzuschließen. Als sie erklärte, sie sei nicht katholisch, weil die Institution der Kirche in ihren Augen die menschliche Freiheit unterdrücke, schauten die Weber sie so entsetzt an, daß sie fürchtete, sie würden sie beschimpfen. Sie verließ alle Versammlungen mit der Überzeugung, daß sie ihre Zeit verschwendete. Trotz ihrer Bemühungen würde sie so gut wie niemanden für die Arbeiterunion gewinnen. Tatsächlich konnte sie am Ende das Organisationskomitee nicht mit den üblichen zehn Mitgliedern begründen; sie mußte sich mit sieben begnügen und hegte außerdem den Verdacht, daß die Hälfte gleich nach ihrer Abreise das Weite suchen würde.
    Damit der Besuch in Saint-Etienne nicht völlig nutzlos geriete, widmete sie sich ihren sozialen Studien, die nach der politischen Aktivität an zweiter Stelle ihrer Vorlieben standen. Von einem Tisch im sympathischen Café de Paris aus, wo sie frühstückte und ihre Mahlzeiten einnahm undmit dessen Besitzerin sie sich angefreundet hatte, beobachtete sie die Offiziere der Garnison, die aus dem Café de Paris eine Dependance der Kaserne gemacht hatten.
    Bald kam sie zu dem Schluß, daß die Soldaten der Linientruppen geborene Schwachköpfe waren und daß die Artillerieoffiziere zwar das Niveau eines normalen Menschen erreichten, aber eine widerwärtig arrogante und snobistische Haltung an den Tag legten. Diese Offiziere, Söhne vermögender Familien des Großbürgertums oder der Aristokratie, hatten anscheinend im Leben nichts anderes zu tun, als ins Café de Paris zu gehen, um Domino oder Karten zu spielen, zu trinken, zu rauchen, sich Witze zu erzählen und den Frauen, die auf dem Bürgersteig vorbeigingen, Komplimente hinterherzurufen, während sie auf irgendeinen Krieg warteten, der ihnen Beschäftigung geben würde. Auch Flora versuchten sie sich anfangs kokett zu nähern. Aber sie ließen es gleich wieder sein; ihre schnippische, ironische Art war ihnen unbehaglich. Ihnen gefielen nur Frauen, die unterwürfig waren wie ihre Ordonnanzen und ihre Pferde. Flora sagte sich, daß es sehr vernünftig gewesen sei, den Lehren des Grafen Saint-Simon zu folgen und in der neuen, von der Arbeiterunion geplanten Gesellschaft die Herstellung jeder Art von Waffen zu verbieten und die Armee abzuschaffen.
    Das Feuer der Erinnerungen, das bei dem Abendessen im Haus der Familie Goin in Roanne entzündet worden war, brannte weiter während ihres Besuchs in Saint-Etienne. Der Aufenthalt in Bordeaux, im Palais des unglaublich reichen Onkels Don Mariano de Goyeneche, der darauf bestand, daß sie ihn »Onkel Mariano« nannte, und sie stets mit »Nichte Florita« anredete, glich einer Wirklichkeit gewordenen Phantasie. Nie warst du in einem so prachtvollen Haus gewesen oder hattest so viele Dienstboten gesehen oder auch nur geahnt, was es hieß, als reicher Mensch zu leben. Nie warst du in den Genuß einer solchen Zuvorkommenheit, so vieler Gefälligkeiten und Annehmlichkeiten gekommen. Und doch, Andalusierin, so richtigglücklich warst du nicht in diesen Monaten in Bordeaux, denn das Lügen war dir noch nicht zur Gewohnheit geworden. Du lebtest in Angst, Besorgnis und Ungewißheit, in der panischen Furcht, dir zu

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