Das Paradies ist anderswo
Depression zu bekämpfen, trank er heimlich den Alkohol, den Daniel, der Kavalier, und Schuff, der Großzügige, ihm in Thermoskannen oder Seltersflaschen brachten.
Er verließ La Salpêtrière mit trockenen, wenn auch von Narben zerfurchten Beinen. Die Kleidung umschlotterte seinen abgemagerten Körper. Mit seinem langen kastanienfarbenen, von grauen Strähnen durchzogenen Haar, das von seiner großen Astrachanmütze gebändigt wurde, mit der aggressiven, gebrochenen Nase, über der in ständiger Erregung die blauen Augen funkelten, und dem kleinen Ziegenbart am Kinn war seine Erscheinung nach wie vor beeindruckend, ebenso wie seine Gesten und Gebärden und die Schimpfwörter, mit denen er seine Dispute würzte, wenn er sich mit seinen Freunden zu Hause oder auf der Terrasse irgendeines Cafés traf, denn in seinem leeren Atelier konnte er niemanden mehr empfangen. Sein Aussehen und seine exzentrische Aufmachung – der schwarzrote Umhang, der ihn umflatterte, seine Hemden in grellen tahitianischen Farben, seine bretonische Weste oder seine Hosen aus blauem Samt – bewirkten, daß die Leute sich nach ihm umdrehten und mit dem Finger auf ihn zeigten. Sie hielten ihn für einen Zauberer, den Botschafter eines exotischen Landes.
Die Erbschaft Onkel Zizis war durch die Krankenhaus-und Arztkosten erheblich zusammengeschrumpft, so daß er sich ein Dritte-Klasse-Billett für das Dampfschiff The Australian kaufte, das am 3. Juli 1895 aus Marseille auslief, durch den Suezkanal fahren und Anfang August in Sydney eintreffen sollte. Von dort würde er eine Verbindung nach Papeete, über Neuseeland, nehmen. Bevor er sich einschiffte, versuchte er, die ihm verbliebenen Bilder und Skulpturen zu verkaufen. Er machte eine Ausstellung in seinem eigenen Atelier, zu der mit Hilfe seiner Freunde und einer kryptisch formulierten Einladungskarte, ein Werk des Schweden August Strindberg, dessen Theaterstücke große Erfolge in Paris feierten, einige Sammler kamen. Der Verkauf war mager. Daraufhin versteigerte er sein gesamtes verbleibendes Werk im Hôtel Drouot, was etwas bessere Ergebnisse erzielte, wenn sie auch hinter seinen Erwartungen zurückblieben. Sein Bedürfnis, nach Tahiti zu kommen,war so dringend, daß er es nicht verbergen konnte. Eines Abends, bei den Molards, fragte ihn der Spanier Paco Durrio nach dem Grund für diese Sehnsucht nach einem Ort, der so schrecklich weit entfernt war von Europa.
»Weil ich kein Franzose oder Europäer mehr bin, Paco. Mag meine Erscheinung auch etwas anderes sagen, so bin ich doch ein Tätowierter, ein Kannibale, einer dieser Neger von dort unten.«
Seine Freunde lachten, aber er hatte ihnen mit seinen üblichen Übertreibungen die Wahrheit gesagt.
Als er dabei war, sein Gepäck vorzubereiten – er hatte sich ein Akkordeon und eine Gitarre als Ersatz für die Instrumente gekauft, die Annah mitgenommen hatte, sowie zahlreiche Photographien und einen guten Vorrat an Leinwänden, Rahmen, dicken und dünnen Pinseln und Farbtuben –, erreichte ihn ein wütender Brief der Wikingerin aus Kopenhagen. Sie hatte vom öffentlichen Verkauf seiner Bilder und Skulpturen im Hôtel Drouot erfahren und forderte Geld von ihm. Wie konnte er sich nur so unmenschlich gegenüber seiner Frau und seinen fünf Kindern verhalten, die sie nun schon seit so vielen Jahren über Wasser hielt, indem sie mit Französisch-Unterricht, Übersetzungen und von Verwandten und Freunden erbettelter Hilfe wahre Kunststücke vollbrachte? Es war seine Pflicht als Vater und Ehemann, ihnen zu helfen und ab und zu eine Geldüberweisung zu schicken. Jetzt konnte er es tun, Egoist.
Mettes Brief ärgerte und betrübte ihn, aber er schickte ihr nicht einen Centime. Stärker als die Gewissensbisse, die ihn bisweilen überfielen – besonders, wenn er an Aline dachte, das sanfte, zarte Mädchen –, war der gebieterische Wunsch fortzugehen, zurück nach Tahiti, das er nie hätte verlassen dürfen. Pech für dich, Wikingerin. Das wenige Geld des öffentlichen Verkaufs brauchte er dringend für seine Rückkehr nach Polynesien, wo er seine Knochen begraben wollte, und nicht auf diesem Kontinent kalter Winter und frigider Frauen. Sie sollte sich mit den Bildern behelfen,die sie noch von ihm besaß, und konnte sich ohnehin trösten, denn nach ihrer Überzeugung (die nicht Pauls war) würde ihr Mann für die Sünden, die er durch die Vernachlässigung seiner Familie beging, bezahlen und für alle Ewigkeit in der Hölle schmoren.
Am Vorabend
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