Das Paradies ist anderswo
der Reise gab es ein kleines Abschiedsfest bei den Molards. Sie aßen und tranken, und Paco Durrio tanzte und sang andalusische Lieder. Als er seinen Freunden untersagte, ihn am nächsten Morgen zum Bahnhof zu begleiten, wo er den Zug nach Marseille nehmen würde, brach die kleine Judith in Tränen aus.
VII
Nachrichten aus Peru
Roanne und Saint-Etienne, Juni 1844
Der Himmel war voller Sterne, und es wehte eine wohlriechende sommerliche Brise am Abend des 14. Juni 1844, als Flora, aus Lyon kommend, in Roanne eintraf. Sie fand keinen Schlaf in ihrer Pension, und während sie durch das Fenster das flimmernde Firmament betrachtete, waren ihre Gedanken bei Eléonore Blanc, der kleinen Arbeiterin in Lyon, die sie ins Herz geschlossen hatte. Wenn alle armen Frauen die Tatkraft, die Intelligenz und die Empfindsamkeit dieses Mädchens besäßen, wäre die Revolution eine Sache von wenigen Monaten. Mit Eléonore würde das Komitee der Arbeiterunion perfekt funktionieren und der Motor für das große Bündnis der Arbeiter im gesamten Südwesten Frankreichs sein.
Du vermißtest dieses junge Mädchen, Florita. Gern hättest du sie in dieser friedlichen, bestirnten Nacht in Roanne in den Armen gehalten und ihren schmalen Körper gefühlt, wie an dem Tag, als du sie in ihrer elenden Behausung in der Rue Luzerne besucht und in Tränen aufgelöst angetroffen hattest.
»Was ist denn mit dir? Warum weinst du?«
»Ich habe Angst, daß ich nicht stark und geschickt genug bin für all die Dinge, die Sie von mir erwarten, Madame.«
Als Flora sie so aufgewühlt sah und die zärtliche Ehrfurcht bemerkte, die in ihrem Blick lag, mußte sie sich stark zusammenreißen, um nicht ebenfalls in Tränen auszubrechen. Sie nahm sie in die Arme, küßte sie auf die Stirn und auf die Wangen. Eléonores Ehemann, ein Färber mit fleckigen Händen, verstand überhaupt nichts:
»Eléonore sagt, Sie hätten ihr in diesen Wochen mehrbeigebracht als alles, was sie bisher erlebt hat. Und statt sich zu freuen, weint sie! Das soll einer verstehen!«
Armes Mädchen, verheiratet mit einem solchen Tropf. Würde auch sie durch die Ehe zerstört werden? Nein, du würdest versuchen, sie zu schützen und zu retten, Andalusierin. Sie stellte sich eine andere Form menschlicher Beziehungen in der durch die Arbeiterunion erneuerten Gesellschaft vor. An die Stelle der Eheschließung, dieses Frauenhandels, würde ein freier Bund treten. Die Paare würden sich verbinden, weil sie sich liebten und gemeinsame Ziele hatten, und sich beim geringsten Zwist auf freundschaftliche Art trennen. Die Sexualität wäre nicht so beherrschend, wie sie im Fourierschen Entwurf der Phalanstères erschien; sie wäre gedämpft, gezügelt durch die Liebe zur Menschheit. Das sexuelle Verlangen wäre weniger egoistisch, denn die Paare würden einen Großteil ihrer Liebesfähigkeit ihren Mitmenschen und der Verbesserung des Zusammenlebens widmen. In dieser Gesellschaft könntet ihr, du und Eléonore, zusammenleben und euch lieben, wie Mutter und Tochter, wie zwei Schwestern oder wie Liebende, verbunden durch das Ideal und die Solidarität mit dem Nächsten. Und diese Beziehung besäße nicht den ausschließlichen, egoistischen Charakter deiner Liebesbeziehung mit Olympe; deshalb hattest du sie abgebrochen und auf die einzige lustvolle sexuelle Erfahrung deines Lebens verzichtet, Florita. Sie würde sich vielmehr auf die gemeinsame Gerechtigkeitsliebe und das soziale Handeln gründen.
Am nächsten Morgen begann sie in aller Frühe ihre Arbeit in Roanne. Der Journalist Auguste Guyard, ein liberaler Katholik, aber Bewunderer Floras, deren Bücher über Peru und England er begeistert besprochen hatte, hatte zwei Versammlungen mit jeweils etwa dreißig Arbeitern für sie organisiert. Sie waren nicht sehr erfolgreich. Wie resigniert wirkten die Leute in Roanne, verglichen mit den wachen, neugierigen canuts in Lyon. Nachdem Flora drei Tuchfabriken besichtigt hatte – die große lokale Industrie,die viertausend Arbeiter beschäftigte –, war sie allerdings angesichts der Arbeitsbedingungen erstaunt, daß diese armen Schlucker nicht noch dumpfer waren.
Ihre schlimmste Erfahrung machte sie in der Weberei eines ehemaligen Arbeiters, Monsieur Cherpin, der jetzt einer der reichsten Kapitalisten der Region war und seine einstigen Brüder ausbeutete. Hochgewachsen, kräftig, behaart, vulgär, mit groben Umgangsformen und einem Übelkeit erregenden Achselgeruch, empfing er sie mit einem spöttischen
Weitere Kostenlose Bücher