Das Paradies ist anderswo
der Gendarmerie anzuzeigen. Seitdem übertrug er seinen Haß von dem Händler in Punaauia auf sämtliche Chinesen Tahitis.
Nicht nur infolge des Geldmangels und der körperlichen Leiden war er gereizt und ständig kurz vor einem Wutanfall; auch die obsessive Erinnerung an seine Mutter und das spurlos verschwundene Porträt machten ihm zu schaffen. Wo war es abgeblieben? Und warum bedrückte dich das Verschwinden dieses Bildes so – du hattest so viele verloren, ohne mit der Wimper zu zucken – und ließ dich überall böse Vorzeichen sehen? Warst du dabei, den Verstand zu verlieren, Paul?
Lange Zeit malte er nicht und beschränkte sich darauf,Skizzen in seine Hefte zu zeichnen und kleine Masken zu schnitzen. Er tat es ohne Überzeugung, abgelenkt von den Sorgen und dem körperlichen Unwohlsein. Dann bekam er eine Entzündung am linken Auge, das schon seit längerem tränte. Der Apotheker in Papeete gab ihm Tropfen gegen Bindehautentzündung, aber sie wirkten nicht im geringsten. Da die Sicht des entzündeten Auges erheblich nachließ, bekamst du Angst: Würdest du erblinden? Er ging ins Hospital Vaiami, und der Arzt, Doktor Lagrange, nötigte ihn dazubleiben. Von dort aus schrieb Paul den Molards, seinen Nachbarn in der Rue Vercingétorix, in einem Brief voller Bitterkeit: »Das Unglück hat mich von Kindesbeinen an verfolgt. Niemals habe ich Glück gehabt, niemals Freuden erlebt. Immer ein feindliches Schicksal. Deshalb rufe ich: Gott, wenn du existierst, ich klage dich der Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit an.«
Doktor Lagrange, der schon lange in den französischen Kolonien lebte, hatte nie Sympathie für ihn empfunden. Er war ein Mann in den Fünfzigern, allzu bürgerlich und solide – fast kahl, mit randlosem, auf der Nasenspitze sitzendem Kneifer, steifem Kragen und Fliege trotz der Hitze in Tahiti –, um mit diesem zügellosen, sittenlosen Bohemien zurechtzukommen, der mit Eingeborenenmädchen zusammenlebte und über den in ganz Papeete die schlimmsten Geschichten in Umlauf waren. Doch er war ein gewissenhafter Arzt und unterzog ihn genauesten Untersuchungen. Seine Diagnose überraschte Paul nicht. Die Entzündung am Auge war ein weiteres Symptom der unaussprechlichen Krankheit. Sie war fortgeschritten, wie der Ausschlag und die Eiterungen an seinen Beinen bewiesen. Sie würde sich also weiter verschlimmern? Bis zu welchem Punkt, Doktor Lagrange?
»Es ist eine langwierige Krankheit«, antwortete der Arzt ausweichend. »Sie wissen das. Halten Sie sich genau an die Behandlung. Und Vorsicht mit dem Laudanum, überschreiten Sie nicht die Dosis, die ich Ihnen angegeben habe.«
Der Arzt zögerte. Er wollte etwas hinzufügen, aber er wagte es nicht, sicher aus Furcht vor deiner Reaktion, denn in Papeete hattest du dir den Ruf eines Cholerikers erworben.
»Ich bin ein Mann, der schlechte Nachrichten verkraften kann«, ermunterte Paul ihn.
»Sie wissen auch, daß diese Krankheit sehr ansteckend ist«, murmelte der Arzt und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Vor allen, wenn man sexuelle Beziehungen hat. In diesem Fall ist die Übertragung des Übels unvermeidlich.«
Paul war nahe daran, ihm eine grobe Antwort zu geben, aber er beherrschte sich, um seine Probleme nicht noch zu verschlimmern. Nach acht Tagen Krankenhausaufenthalt stellte die Verwaltung ihm eine Rechnung in Höhe von hundertachtzehn Francs aus und wies ihn darauf hin, daß man die Behandlung abbrechen werde, wenn er sie nicht sofort begleiche. In dieser Nacht machte er sich durch ein Fenster davon; nachdem er über das Gitter geklettert war, gelangte er auf die Straße und kehrte schließlich im öffentlichen Wagen nach Punaauia zurück. Pau’ura verkündete ihm, sie sei schwanger, im vierten Monat. Sie erzählte ihm auch, daß der Chinese des Kaufladens aus Rache für Pauls Gezeter im Dorf das Gerücht in Umlauf gesetzt hatte, Paul habe Lepra. Die Bewohner, aufgeschreckt durch diese angsteinflößende Krankheit, wollten in einem gemeinsamen Beschluß die Behörden bitten, ihn aus dem Dorf zu weisen, ihn in einer Leprastation zu internieren oder von ihm zu verlangen, er solle sich von den Ortschaften der Insel fernhalten. Pater Damian und Ehrwürden Riquelme unterstützten sie, obwohl sie dem Gerede des Chinesen sicher keinen Glauben schenkten; aber sie wollten die Gelegenheit nutzen, das Dorf von einem Lüstling und Gottlosen zu befreien.
Nichts von alldem erschreckte oder ängstigte ihn über die Maßen. Er lag fast den
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