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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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schmutzigste und übelste Teil der Geschichte. So schmutzig und übel, daß du an jenem Abend, als Gustave Arosa dir, im Glauben, sich bei dir lieb Kind zu machen, den Brief vom April 1837 zeigte, den das Mädchen der Mutter fünf Monate nach ihrer dritten Entführung geschickt hatte, schon bei den ersten Zeilen vor Abscheu die Augen schließen mußtest und ihn deinem Vormund zurückgabst. Dieser Brief hatte eine Rolle im Verfahren gespielt, war Teil der Gerichtsakte gewesen, in den Zeitungen erschienen, hatte in den Pariser Salons und Kaffeehäusern Anlaß zu Klatsch und Gerede gegeben. André Chazal lebte in einer schäbigen Behausung in Montmartre. Das verzweifelte Mädchen bat seine Mutter, mit Orthographiefehlern in jedem Satz, sie dort herauszuholen. Sie habe Angst, Schmerzen, Panik in den Nächten, wenn ihr Vater – »der Herr Chazal«, sagte sie –, gewöhnlich betrunken, sie zwinge, sich nackt mit ihm in das einzige Bett zu legen, und, ebenfalls nackt, sie umarme, küsse, sich an ihr reibe und von ihr verlange, das gleiche mit ihm zu tun. So schmutzig, so übel, daß Paul lieber die Augen verschloß vor dieser Episode und der Anzeige, die dieGroßmutter Flora gegen André Chazal wegen Vergewaltigung und Inzest erstattete. Schreckliche, ungeheure Anklagen, die den vorhersehbaren Skandal auslösten, aber dank der vollendeten Kunst Jules Favres, der anderen Bestie im Gerichtssaal, dem inzestuösen Vergewaltiger nur einige wenige Wochen Gefängnis einbrachten, denn obwohl die Indizien gegen ihn sprachen, befand der Richter, »daß die materielle Tatsache des Inzests nicht glaubwürdig bewiesen werden konnte«. Der Richterspruch verurteilte das Mädchen erneut, getrennt von seiner Mutter in einem Internat zu leben.
    Waren all diese Dramen mit ihren schaurigen Zügen in das Porträt von Aline Gauguin eingegangen, Paul? Du warst dir nicht sicher. Du wolltest dieses Bild zurückholen, um es herauszufinden. War es ein Meisterwerk? Vielleicht. Im Blick deiner Mutter, daran erinnertest du dich, lag ihre angeborene Schüchternheit, aber er verströmte auch ein stilles, dunkles, bläulich durchzucktes Feuer, das durch den Betrachter hindurchging und sich irgendwo im Leeren verlor. »Worauf blickst du auf meinem Bild, Mutter?« »Auf mein Leben, mein armes, elendes Leben, mein Sohn. Und auch auf deines, Paul. Ich hätte mir gewünscht, daß du im Unterschied zu deiner Großmutter, zu mir, zu deinem armen Vater, der mitten auf dem Meer starb und den wir am Ende der Welt begruben, ein anderes Leben gehabt hättest. Das eines normalen Menschen, ruhig, sicher, ohne Hunger, ohne Angst, ohne Fluchten, ohne Gewalt. Es sollte nicht sein. Ich habe das Unglück auf dich vererbt, Paul. Verzeih mir, mein Sohn.«
    Als Pau’ura eine Weile später durch Kokes Schluchzen geweckt wurde und ihn fragte, warum er weine, log er:
    »Meine Beine brennen wieder, und zu allem Unglück ist mir die Salbe ausgegangen.«
    Auch der Mond, die strahlende Hina, Göttin der Ariori, der alten Maori, kam dir traurig vor, wie er still am Himmel von Punaauia stand und inmitten des Blättergewirrs im Geviert des Fensters leuchtete.
    Von Onkel Zizis Erbe und von dem Geld, das er aus Paris mitgebracht hatte, war fast nichts mehr übrig. Weder Daniel noch Schuff, weder Ambroise Vollard noch die anderen Galeristen, bei denen er Bilder und Skulpturen zurückgelassen hatte, gaben ein Lebenszeichen. Der treueste Brieffreund war wie immer Daniel de Monfreid. Aber er fand keinen Käufer, nicht für ein einziges Bild, eine einzige Figur, eine elende Skizze. Allmählich gingen die Lebensmittel aus, und Pau’ura beklagte sich. Paul schlug dem Chinesen, dem Besitzer des einzigen Kaufladens in Punaauia, einen Tauschhandel vor: Er würde ihm Zeichnungen und Aquarelle geben, damit er ihn und seine vahine ernährte, bis er Geld aus Frankreich erhielte. Zähneknirschend willigte der Händler schließlich ein.
    Wenige Wochen später berichtete Pau’ura ihm, daß der Chinese, statt seine Zeichnungen aufzubewahren, an die Wände zu hängen oder sie zum Verkauf anzubieten, sie benutzte, um seine Waren darin einzuwickeln. Sie zeigte ihm die Reste einer Landschaft mit Mangobäumen in Punaauia, fleckig, zerknittert und mit Spuren von Fischschuppen. Hinkend, auf den Stock gestützt, den er jetzt für die kleinsten Entfernungen selbst innerhalb der Hütte benutzte, begab Paul sich zum Laden und stellte den Besitzer zur Rede. Er wurde so laut, daß der Chinese ihm drohte, ihn bei

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