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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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von Skribenten waren weder überlistet noch getäuscht worden, sie selbst hatten die falsche Information zusammengebraut. Vielleicht aus Neid, aufgrund des Erfolgs, den du in Lyon gehabt hattest, oder weil sie meinten, deine revolutionären Ideen, mit denen sie nicht übereinstimmten, ließen sich am besten erledigen, indem sie dich als Spionin diffamierten. Oder war ihr Haß darauf zurückzuführen, daß du eine Frau warst? Sie fanden es unerträglich, daß eine Frau dieses Werk der Befreiung betrieb, das für sie Männersache war. Und eine solche Niedertracht wurde von Leuten begangen, die sich Fortschrittler, Republikaner, Revolutionäre nannten. In den zwei Stunden der Debatte erreichte Flora nicht, daß Monsieur Rittiez ihr verriet, woher das von Le Censeur verbreitete Gerücht stammte. Schließlich war sie es leid und ging, türenschlagend und mit der Drohung, der Zeitung wegen Verleumdung den Prozeß zu machen. Doch das Komitee der Arbeiterunion brachte sie davon ab: Le Censeur , eine Zeitung, die in Opposition zur Monarchie stand, besaß Prestige, und ein Gerichtsprozeß gegen sie würde der Volksbewegung Schaden zufügen. Es sei besser, mit öffentlichen Dementis gegen die falsche Information vorzugehen.
    Das tat sie in den nächsten Tagen mit Vorträgen in Werkstätten und Verbänden und mit Besuchen in den anderen Tageszeitungen, bis sie erreichte, daß wenigstens zwei von ihnen ihre Gegendarstellungen veröffentlichten. Eléonore wich keinen Augenblick von ihrer Seite und überschüttete sie mit Beweisen ihrer Zuneigung und Hingabe, die Flora zutiefst rührten. Was für ein Glück, daß sie so eine junge Frau kennengelernt hatte, was für ein Glücksfall, daß die Arbeiterunion in Lyon mit einer so idealistischen, so entschlossenen Person rechnen konnte.
    Die Aufregung und die Mißhelligkeiten taten das Ihre und schwächten ihren Organismus. Einen Tag nach ihrer Rückkehr nach Lyon begann sie zu fiebern und unter Zitteranfällen und einer Magenverstimmung zu leiden, die sie enorm erschöpfte. Doch deshalb schränkte sie ihre frenetische Aktivität nicht ein. Wo immer sie auftrat, beschuldigte sie Rittiez, von seiner Zeitung aus Zwietracht in der Volksbewegung zu säen.
    In den Nächten ließ das Fieber sie nicht schlafen. Es war seltsam. Du fühltest dich, elf Jahre später, wie in jenen fünf Monaten auf der Méxicain , dem von Zacharie Chabrié kommandierten Schiff, als du mit der Hoffnung, deine väterlichen Verwandten würden dich nicht nur mit offenen Armen aufnehmen und dir ein neues Zuhause geben, sondern dir darüber hinaus das Fünftel des Erbes deines Vaters auszahlen, den Atlantik überquertest, Kap Hoorn umrundetest und schließlich den Pazifik in Richtung Peru hinauffuhrst. Das wäre die Lösung all deiner ökonomischen Probleme, du könntest die Armut überwinden, deine Kinder aufziehen und ein ruhiges Leben führen, vor Nöten und Gefahren geschützt, ohne die Furcht, André Chazal in die Hände zu fallen. Von diesen fünf Monaten auf hoher See, in der winzigen Kabine, in der du kaum die Arme ausstrecken konntest, umgeben von neunzehn Männern – Matrosen, Offiziere, Koch, Schiffsjunge, Reeder und vier Passagiere –, war dir die grauenhafte Übelkeit im Gedächtnis geblieben, die dir, wie jetzt in Lyon die Magenkoliken,die Energie, das Gleichgewicht, die geistige Präsenz raubte und dich in Verwirrung und Unsicherheit versinken ließ. Jetzt warst du, wie damals, überzeugt, jeden Augenblick zusammenbrechen zu können, unfähig, dich aufrecht zu halten, dich im Takt mit den unregelmäßigen Schwankungen des Bodens zu bewegen, auf den du tratest.
    Zacharie Chabrié benahm sich wie der vollendete bretonische Kavalier, für den Flora ihn am Abend ihres Kennenlernens in der Pariser Pension gehalten hatte. Er überhäufte sie mit Aufmerksamkeiten, brachte ihr persönlich die Kräutertees in die Kabine, die angeblich gegen das Würgen halfen, und ließ ihr ein kleines Bett an Deck aufstellen, neben den Hühnerkäfigen und den Gemüsekisten, weil die Übelkeit in der frischen Luft nachließ und Flora für kurze Momente zur Ruhe kam. Nicht nur Kapitän Chabrié behandelte sie mit großer Zuvorkommenheit, auch der zweite Offizier an Bord, Louis Briet, ebenfalls ein Bretone. Selbst der Reeder Alfred David, der sich als Zyniker gab, für die menschliche Gattung nur die abfälligsten Bemerkungen übrig hatte und ihr die schlimmsten Katastrophen prophezeite, zeigte sich ihr gegenüber sanftmütig,

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