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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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ganzen Tag in der Hütte, in einer schläfrigen Betäubung, die jede Erinnerung oder Sehnsuchtaus seinem Kopf tilgte. Da seine einzige Versorgungsquelle versiegt war, ernährten er und Pau’ura sich von Mangos, Bananen, Kokosnüssen, von den Früchten des Brotbaums, die sie in der Umgebung sammelte, und von den geschenkten Fischen, die ihre Freundinnen ihr bisweilen hinter dem Rücken ihrer Familien zusteckten.
    In dieser Zeit vergaß Paul allmählich das Porträt seiner Mutter. An die Stelle Aline Gauguins trat ein anderes obsessives Thema: die Überzeugung, daß die Geheimgesellschaft der Ariori noch immer existierte. Er hatte in dem Buch des Konsuls Moerenhout über die alten Glaubensvorstellungen der Maori, das der Siedler Auguste Goupil ihm geliehen hatte, darüber gelesen. Und so begann er eines schönen Tages aufs Geratewohl zu behaupten, daß die Eingeborenen Tahitis die Existenz dieser mythischen Gesellschaft insgeheim aufrechterhielten und sie sorgsam vor den Fremden, Europäern oder Chinesen, verbargen. Pau’ura sagte, er sehe Gespenster; die Maori, die ihn noch besuchten, versicherten ihm, er habe Wahnvorstellungen. Diese Geheimgesellschaft der Ariori, der Götter und Herren der alten Tahitianer, war den meisten von ihnen völlig unbekannt. Und die wenigen Maori, die von den Ariori gehört hatten, schworen ihm, daß kein Eingeborener mehr an diese alten Geschichten glaubte, daß diese Glaubensvorstellungen in den Nebeln der Vergangenheit versunken waren. Doch Paul, eigensinnig und voller fixer Ideen, wie er war, kam monatelang, Tag und Nacht, auf das Thema der Ariori zurück. Und er machte sich daran, hölzerne Götzen und Figuren zu schnitzen und Bilder zu malen, die durch diese Fabelgestalten inspiriert waren. Die Ariori gaben ihm die Lust am Malen zurück.
    ›Sie täuschen mich‹, dachtest du. Sie sahen weiterhin einen Europäer in dir, einen popa’a , nicht den Barbaren, der du in der Seele längst warst. Ein paar Dutzend Jahre französischer Kolonisation konnten nicht jahrhundertealte Glaubensvorstellungen, Riten, Mythen ausgelöscht haben. Um sich zu schützen, hatten die Maori diese religiöse Traditionzwangsläufig in einer geistigen Katakombe versteckt, unerreichbar für protestantische Pastoren und katholische Priester, die Feinde ihrer Götter waren. Die Geheimgesellschaft der Ariori, der die Maori aller Inseln ihre glorreichste Zeit verdankten, war lebendig. Bestimmt traf sie sich im tiefsten Wald, um ihre alten Tänze zu zelebrieren und zu singen, und drückte sich noch immer in den Tätowierungen aus, die, wenn auch nicht so verfeinert und geheimnisvoll wie auf den Marquesainseln, trotz der Verbote unter den tahitianischen Pareos florierten. Diese Tätowierungen enthüllten dem, der sie zu lesen verstand, die Stellung des Individuums in der Hierarchie der Ariori. Als Paul zu behaupten begann, im dichten Schweigen der Wälder würden noch immer die heilige Prostitution, Kannibalismus und Menschenopfer praktiziert, erzählte man sich in Punaauia, es sei vielleicht falsch, daß der Maler unter Lepra leide, aber sehr wahrscheinlich, daß er den Verstand verloren habe. Die Leute lachten ihm schließlich ins Gesicht, wenn er sie flehend oder wütend bat, ihm das Geheimnis der Tätowierungen zu enthüllen und ihn in die Gesellschaft der Ariori einzuführen: Koke habe sich Verdienste genug erworben, Koke sei längst ein Maori geworden.
    Ein Brief von Mette beschloß diese düstere Phase mit einem letzten Tiefschlag. Ein spröder, kalter, vor zweieinhalb Monaten geschriebener Brief: Seine Tochter Aline war im Januar kurz nach ihrem zwanzigsten Geburtstag an den Folgen einer Lungenentzündung gestorben, die sie sich durch die Kälte zugezogen hatte, der sie während der Rückkehr von einem Ball in Kopenhagen ausgesetzt war.
    »Jetzt weiß ich, warum mich die Erinnerung an meine Mutter und ihr Porträt verfolgt hat, seit ich aus Europa zurückgekehrt bin«, sagte Paul zu Pau’ura, mit Mettes Brief in den Händen. »Es war eine Ankündigung. Meine Tochter hieß Aline in Erinnerung an sie. Auch sie war zart, ein bißchen schüchtern. Ich hoffe, sie hat in ihrer Kindheit nicht so viel gelitten wie die andere Aline Gauguin.«
    »Ich habe Hunger«, unterbrach ihn Pau’ura, während sie mit einem komischen Gesichtsausdruck ihren Bauch berührte. »Man kann nicht leben, ohne zu essen, Koke. Hast du nicht gemerkt, wie dünn du bist? Du mußt etwas unternehmen, damit wir essen können.«

IX

Die

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