Das Paradies ist anderswo
Bild Aline Chazals, das nicht aus deinem Kopf ging, wurde zu einer weiteren Wunde.
Es war die Aline Chazal aus Fleisch und Blut, nicht nur ihr Bild, die ihn bedrängte. Warum kehrte deine Erinnerung jetzt wieder und wieder zu der Kette von Mißgeschicken im Leben des Kindes zurück, das als einziges der drei von der Großmutter Flora zur Welt gebrachten überlebt hatte? Es wäre besser gewesen, die unglückliche Tochter von Flora Tristan hätte nicht überlebt und wäre gestorben wie ihre zwei Brüder.
Bei jenem letzten Treffen mit seinem Vormund hatte Paul erlebt, wie die Augen Gustave Arosas sich mit Tränen füllten, als er den Leidensweg Aline Chazals schilderte, den er in allen Einzelheiten kannte. Das hatte seine Vermutungen über die Beziehung zwischen seiner Mutter und dem Millionär bestätigt. Wem sonst als einem Liebhaber hätte sie, die wenige Worte machte und ihre Geheimnisse sorgsam hütete, diese demütigende Geschichte erzählt? Dieser Gedanke ging dir im Kopf herum, während du die makabren Einzelheiten ihres Lebens erfuhrst und statt zu weinen, wie dein Vormund, schier vergingst vor Eifersucht und Scham. Jetzt dagegen, in dieser lauen, windstillen Nacht mit dem Duft nach Bäumen und Pflanzen, mit diesem großen gelben Mond, dessen Licht dem Hintergrund des Porträts von Aline Gauguin glich, hattest du Lust, ebenfalls zu weinen. Um dich, um den glücklosen Journalisten Clovis Gauguin, aber vor allem um deine Mutter. Ja, was für eine traurige Kindheit hatte sie gehabt. Auf die Welt zu kommen, als die Großmutter Flora bereits vor dem Großvater geflohen war – denn André Chazal, diese Bestie, diese widerwärtige Hyäne, war dein Großvater, sosehr dir auch das Blut gefror bei dieser Vorstellung –, und die ersten Lebensjahre immer auf dem Sprung zu verbringen, in Pensionen, billigen Hotels, elenden Herbergen, ohne zu wissen, was ein Heim, was eine Familie ist, an die Röcke der ungestümen Flora geklammert, ständig auf derFlucht, ständig den verlassenen Vater auf den Fersen oder, schlimmer noch, der Obhut bäuerlicher Ammen anvertraut. Dieses Mädchen ohne Vater und ohne Mutter mußte eine deprimierende Kindheit gehabt haben. Als die Großmutter Flora nach Peru reiste und zwei Jahre in Arequipa, in Lima und auf den Meeren der Welt verbrachte, ließ sie Aline bei einer barmherzigen Frau auf dem Land bei Angoulême zurück, die sich ihrer annahm, wie die Großmutter Flora selbst in den Fahrten einer Paria erzählte. Wie schade, daß du diese Erinnerungen nicht hier bei dir hattest, Paul.
Als Flora nach Frankreich zurückkehrte, holte sie Aline zu sich, und diese konnte, wenn auch nur drei Jahre, die Nähe ihrer Mutter genießen. Dennoch war diese Zeit – Gustave Arosa sagte es, und es mußte stimmen, denn Aline selbst hatte es ihm erzählt –, die Zeit zwischen der Rückkehr der Großmutter Flora aus Peru, als sie deine Mutter aus Angoulême holte und mit zu sich nach Paris nahm, in die kleine Wohnung in der Rue du Cherche-Midi Nummer 42, und sie als externe Schülerin in einer Mädchenschule der benachbarten Rue d’Assas anmeldete, und dem 31. Oktober 1835, als jener Alptraum begann, der erst drei Jahre später mit dem Pistolenschuß in der Rue du Bac enden sollte, die beste ihres Lebens, die einzige, in der Aline in den Genuß ihrer Mutter, eines Heims, einer trauten Routine kam, die so etwas wie Normalität vorspiegelte. An jenem Tag kehrte Aline in Begleitung eines Dienstmädchens von der Schule nach Hause zurück. Ein schlecht gekleideter, alkoholisierter Mann mit hervorspringenden, geröteten Augen hielt sie mitten auf der Straße an. Mit einer Ohrfeige fegte er das entsetzte Dienstmädchen zur Seite und stieß Aline gewaltsam in den Wagen, der auf ihn wartete, während er schrie: »Ein Mädchen wie du muß bei seinem Vater sein, einem ehrbaren Mann, und nicht bei diesem liederlichen Frauenzimmer von deiner Mutter. Du mußt wissen, daß ich dein Vater bin, André Chazal.« 31. Oktober 1835: Beginn der Hölle für Aline.
»Schrecklich, auf diese Art von der Existenz ihres Erzeugers zu erfahren«, sagte Gustave Arosa, bis ins Mark erschüttert. »Deine Mutter war kaum zehn Jahre alt, es war das erste Mal, daß sie André Chazal sah.« Es war der erste Raub von den dreien, die das Mädchen zu erleiden hatte. Diese Entführungen machten aus ihr das traurige, melancholische, verletzte Wesen, das sie immer war und das du auf diesem verlorenen Porträt gemalt hattest, Paul. Doch schlimmer
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