Das Paradies ist weiblich
immer. Die Initiative trug Früchte, und die Lebensbedingungen verbesserten sich. Dennoch hat Tsunami Ana das Haus
ihrer Mutter nie verlassen. Nur selten hat sie sich aus diesem Dorf, Yunnin, in dem die Uhren anders ticken und wo sie jeden
Einwohner kennt, fortbewegt, nicht einmal, um in den Genuss eines bequemeren Heimes zu kommen.
Ihr Bruder starb, als sein Lkw auf der Strecke abstürzte, |88| die auch wir hierher genommen hatten. Er hinterließ eine große Lücke in Tsunami Anas Leben, die ihre bereits erwachsenen Söhne
so gut wie möglich zu schließen versuchten.
Nicht einmal in dieser Zeit wäre es für Rugeshis Großmutter denkbar gewesen, Hanfei ins Haus zu holen. Eine Matriarchin will
keinen Mann.
Tsunami Ana ist rüstig, sie hat die siebzig überschritten, und es sieht so aus, als habe sie noch ein großes Stück des Weges
vor sich.
Hanfei, ihr Geliebter, hatte nicht so viel Glück im Leben wie sie, er hat keine Ländereien in der Nähe des Sees oder eine
große Familie mit jungen, tatkräftigen Händen, und er verfügt auch nicht über die Robustheit, die sie immer noch an den Tag
legt. In den letzten Monaten haben sie sich nur selten gesehen, erst als Hanfei anfing, immer schlimmer zu husten, und Erstickungsanfälle
bekam, ging sie regelmäßig zu ihm, um sich nach seinem Gesundheitszustand zu erkundigen. Er kann nicht mehr im Bett liegen,
er schläft im Sitzen mit zwei Kissen unter dem Arm. Im Winter wird sich sein Zustand verschlechtern, dessen sind sich alle
sicher.
Und darum hat Tsunami Ana beschlossen, dass der Mann, mit dem sie über so lange Zeit ihre Nächte geteilt hat, an ihrer Seite
sterben soll. Sie will bis zum letzten Atemzug bei ihm sein. Es ist |89| besser, ihn ins Haus zu holen, damit sie gleich zur Stelle ist, wenn er sie braucht.
Ich habe aufmerksam zugehört und spüre, dass hinter diesen energischen Gestalten, die alles im Griff haben, immer auch eine
fürsorgliche und liebende Frau steht, und dass sie das nie verbergen.
Ich überlege: Würde ein Mann von diesem Temperament in der Situation dasselbe tun?
Am nächsten Morgen gehe ich direkt auf Tsunami Ana zu, obwohl ich ja weiß, wie unduldsam sie uns Männern und unseren Begrenzungen
begegnet, und frage sie:
»Was ist besser für eine Frau, viele Männer zu haben oder einen einzigen?«
»Einen einzigen«, sagt sie ohne Zögern.
»Warum?«
»Weil es zeigt, dass sie Frau genug ist, einen Mann über viele Jahre zu faszinieren. Das ist es wert.« Dann hebt sie die Augenbrauen,
richtet ihren Zopf und fragt: »Buttertee?«
Auf der Rückfahrt schauen wir alle aus dem Fenster und wechseln kaum ein Wort. Das Erlebte bedarf keines Kommentars.
Rugeshi Ana möchte in einem nahe gelegenen Dorf haltmachen, um einen ihrer Cousins auf seiner Baustelle zu besuchen. Es ist
ein kleiner, belebter |90| Ort. An der Hauptstraße steht ein Geschäft neben dem anderen, sie schließt ab mit einem Tempel. Etwa ein Dutzend Männer ist
mit den Renovierungsarbeiten des Heiligtums beschäftigt. Sie sind dabei, die Außenmauern einzurüsten. Doch der wahre Notfall
offenbart sich erst, wenn man die Treppe hochsteigt: Das Dach ist eingestürzt. Rugeshi Anas Cousin, ein buddhistischer Mönch
mit orangefarbener Tunika, rasiertem Schädel und in Sandalen, zu denen er Strümpfe trägt, ist mit der Überwachung der Bauarbeiten
betraut.
Sie geht auf ihn zu, die beiden unterhalten sich angeregt. Nach einer Weile kommt sie zurück und fragt mich, ob der Mönch
bis zur nächsten Gemeinde mitfahren darf.
Ein tibetischer Fahrer, eine künftige Matriarchin, ein Dolmetscher und mutmaßlicher Informant der Staatssicherheit und ein
neugieriger Südamerikaner in einem Jeep – da macht sich ein buddhistischer Mönch als Fünfter im Bunde doch nicht schlecht.
Der Mönchscousin scheint ein lustiger Zeitgenosse zu sein, meine Mitfahrer jedenfalls kommen aus dem Lachen nicht heraus.
Er schnattert die ganze Zeit und gestikuliert, als würde er jemanden nachahmen. Ich frage erst gar nicht nach einer Übersetzung,
mir ist klar, dass Scherze ihre Würze verlieren, wenn sie erklärt werden müssen.
|91| Als wir uns verabschieden, frage ich Rugeshi Ana, ob alle in ihrer Familie denselben Sinn für Humor hätten. Sie schüttelt
den Kopf. Nein, ihr Bruder sei ein mürrischer Kerl und er habe keinen guten Charakter.
»Führt das nicht zu Konflikten mit der Matriarchin?«
Sie sagt, er sei bei der Regierung angestellt. »Es
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