Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Paradies ist weiblich

Titel: Das Paradies ist weiblich
Autoren: Ricardo Coler
Vom Netzwerk:
noch.«
    »Passen Sie oft auf den Kleinen auf?«
    |76| Die Großmutter brummt, meine Frage scheint ihr nicht zu passen. Nach einem längeren Zögern beschließt sie aber doch, ihrem
     Brummen eine Erklärung folgen zu lassen.
    »Eine Frau bekommt ihr Kind und bleibt fast ein Jahr bei ihm. Sie gibt ihm zu essen und beschäftigt sich mit ihm. Wenn es
     Zeit wird, zur Arbeit zurückzukehren, übergibt sie den Sprössling der Großmutter. Und die älteren Tanten sind ja auch noch
     da. Die Mutter kann in ihren gewohnten Alltag zurückkehren, und das Kind wächst trotzdem im häuslichen Umfeld auf.«
    So einfach ist das.
    Die Frauen wissen, dass sie die Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Sippe tragen. Sie sorgen für den Unterhalt, und das
     treibt sie an, bald wieder zu arbeiten. Und da alle Familienmitglieder sämtlicher Generationen unter einem Dach leben, erledigt
     sich die Not der Betreuung der Kleinen während dieser Zeit. Für die reibungslose Organisation des Haushalts wie auch für die
     Kindererziehung braucht es keinen Mann.
    Klagen darüber, dass Mütter sich im Leben nicht entfalten könnten, weil ihr Partner sie nicht unterstützt, kennt man hier
     nicht.
    »Und wenn die Mutter sich nicht von dem Kind lösen will?«
    |77| »Das kommt nicht vor, sie weiß es doch in guten Händen bei ihrer Familie. Das ist, als ob sie sich selbst um das Kleine kümmerte«,
     lautet die prägnante Antwort auf eine Frage, die sich in der Welt der Mosuo nicht stellt.
    Ein junger Mann in grauem Anzug, Alpargatas und mit einem schmalkrempigen Hut auf dem Kopf tritt zu uns ans Feuer. Er grüßt
     die Matriarchin und überreicht ihr ein Bündel Geldscheine, das sie in der Tasche ihres Rocks verschwinden lässt – sein Tageslohn.
     Er nimmt Tsunami Ana das Kind ab, setzt ihm ein Schildmützchen auf und albert mit ihm herum. Er wirft den Jungen in die Höhe,
     der Kleine juchzt vor Freude und zieht seinem erwachsenen Spielgefährten an den Haaren. Der junge Mann trinkt einen Tee und
     nimmt das Kind auf den anderen Arm, damit es sich nicht an der heißen Tasse verbrennt. Er macht das alles ganz selbstverständlich
     und locker, und der Kleine fremdelt nicht eine Sekunde.
    Ob Vater oder nicht, die Männer pflegen einen sehr zärtlichen Umgang mit den Kindern, die sie umgeben. Häufig sieht man sie
     mit einem kleinen Wesen auf dem Arm, an der Hand, oder sie tragen es huckepack. Manchmal sitzt eines auch auf dem Schoß seines
     Onkels und verlangt nach Aufmerksamkeit, während der versucht, sich auf sein Kartenspiel zu konzentrieren.
    |78| Wenn ein Mann, ganz gleich welchen Alters, ein Haus mit Kindern betritt, spricht er mit ihnen, spielt mit ihnen, lächelt ihnen
     zu. Diese Zuneigung entwickelt sich völlig zwanglos, vielleicht, weil sie nicht mit Verantwortung und Verpflichtungen einhergeht.
    »Was macht der Vater des Kleinen, besucht er ihn oft?«, frage ich.
    »Das ist nicht der Vater, das ist mein Sohn, der Onkel.«
    Als wäre ihr, wie sie von ihm sprach, etwas dringend zu Erledigendes eingefallen, schickt sie ihn mit einer Anweisung fort.
     Ihr Wunsch scheint ihm Befehl zu sein.
    »Tut man immer, was Sie sagen?«
    Die Großmutter raucht, hört sich an, was ihre Enkelin übersetzt, und beobachtet mich mit zusammengekniffenen Augen. Sie muss
     eine sehr attraktive Frau gewesen sein. Der Typ Frau, bei dem es einem die Sprache verschlägt, die es versteht, zu provozieren
     und die Blicke auf sich zu ziehen, und die sich die Butter nicht vom Brot nehmen lässt. Zweifellos. Man spürt, dass das Feuer
     in ihr noch nicht erloschen ist.
    »Sie tun immer, was ich sage«, erwidert sie. »Wenn sie aus irgendeinem Grund protestieren, muss ich nie lange warten, bis
     sie zu mir kommen und um Verzeihung bitten.«
    |79| »Und wie stellen Sie es an, dass man Ihnen einen solchen Respekt entgegenbringt?«
    »Ich bin die Mutter, und wenn sie nicht hören wollen, dann drohe ich ihnen mit der Ehe.«
    »Wie habe ich das zu verstehen?«
    »Ich sagen ihnen, wenn sie mir nicht gehorchen, werde ich dafür sorgen, dass sie heiraten. Das erschreckt sie und wirkt immer.«
    Tsunami Anas Kinder sind erwachsen, alle zwischen dreißig und vierzig Jahre alt.
    »Aber was ist so erschreckend an einer Ehe?«
    »Sie müssten dann mit einer Fremden zusammenleben, noch dazu immer mit derselben. Außerdem müssten sie arbeiten und für ihren
     Lebensunterhalt aufkommen. Was das bedeutet, sieht man ja in allen Dörfern, die nicht von Mosuo bewohnt werden. Wenige
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher