Das Paradies ist weiblich
Trocknen auf
Seile, nach und nach füllt sich der Ort mit in der Luft wehenden Mantras.
Der Buddhismus hat einige Praktiken aus dem Hinduismus übernommen, etwa das Tantra. Der Tantrismus arbeitet unter anderem
mit Mantras, bei denen durch repetitives Rezitieren von kurzen, formelhaften Wortfolgen Schwingungsrhythmen erzeugt werden,
die auf das Unterbewusstsein wirken. Auch der Umgang mit der sexuellen Energie |96| ist wichtig, denn erotische Lust wird als mystische Erfahrung angesehen. Durch Erreichen eines hohen Grades an Konzentration,
so offenbarte Shiva seiner Frau Parvati, könne man den Höhepunkt lange hinauszögern. Das erlaube den Liebenden, sich in eine
Ekstase hineinzusteigern, die dem weiblichen Orgasmus ähnele – die weibliche Sexualität wurde, anders als die männliche, in
die Nähe des Mystischen gerückt. Die Konzentrationsübung, die Shiva vorschlug, sollte beiden Partnern größtmögliche Erfüllung
schenken und dem Mann erlauben, am mystischen Weiblichen teilzuhaben.
Die vorherrschende Religion bei den Mosuo ist der tibetische Buddhismus, eine Religion also, die keinen allmächtigen Gottvater
kennt, sondern mehrere und menschliche Götter verehrt. Götter, die nie auf den Gedanken kamen festzulegen, was erlaubt und
was verboten ist. Die Lehre vom Rad der Reinkarnation, dem Karma und der Erleuchtung ist unabhängig von ihnen entstanden.
Die tibetische Variante des Buddhismus heißt Lamaismus – eine Hommage an ihre Meister, die Lama-Mönche. Der Lamaismus umfasst
verschiedene Orden, unter anderem den Gelugpa-Orden, zu dem das Kloster am Lugu-See gehört; an seiner Spitze stehen der Dalai
Lama und der Panchen Lama. Alle Mitglieder dieses Ordens leben zölibatär.
|97| Im Buddhismus ist es auch Frauen vergönnt, den Zustand der Erleuchtung zu erreichen. Eine der berühmtesten, der dies gelang,
ist die Göttin Tara, die den Rat der Mönche in den Wind schlug, für ihre Wiedergeburt im Körper eines Mannes zu beten, damit
sie der Erleuchtung näherkäme. Sie wollte es auf ihrem eigenen Weg schaffen, und es ist ihr gelungen. Ihr Kult entwickelte
sich in Tibet im 11. Jahrhundert unter dem Einfluss einer Sekte, die als Vorläufer des Gelugpa-Ordens gilt.
Der Begründer des tibetischen Buddhismus, Padmasambhava (»der aus dem Lotus Geborene«), lehrte: Es braucht einen menschlichen
Körper, um zur Erleuchtung zu gelangen, ob Mann oder Frau, macht keinen Unterschied. Aber für den, der entschlossen ist, in
sich den Geist des Erwachens zu entfalten, ist ein Frauenkörper günstiger. Dennoch ist keine Frau je Lama geworden. Dabei
waren von Anbeginn Nonnen im Buddhismus vertreten, in Nepal gibt es sogar Klöster, wo sie in der Mehrzahl sind.
Alle großen buddhistischen Orden haben Unterorden. Einer von ihnen lehnt Frauen als Lamas oder religiöse Autoritäten generell
ab, mehr noch: er akzeptiert sie nicht einmal als Nonnen.
Ausgerechnet diesem Unterorden folgen die Mosuo-Matriarchinnen in ihrem Glauben.
|98| Vom Ufer her steigt Rauch auf. Die alte Frau, die das Reisig beaufsichtigte, scheint auf den geeigneten Moment gewartet zu
haben, es zu entzünden. Es entsteht ein süßlich riechender Nebel, der mir in die Nase steigt und Schwindel erzeugt. Stellenweise
ist er so dicht, dass man die alte Frau nicht mehr erkennen kann.
Das Fest strebt seinem Höhepunkt entgegen. Die jungen Mosuo-Männer, in der Region für ihre Musik bekannt, spielen eine Melodie
auf der Flöte. Ein ungewohnter Anblick für mich, der ich sie bisher nur mahjong- oder kartenspielend kenne.
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Nun bin ich schon drei Wochen am Lugu-See, es wird Zeit, endlich auch mit den Männern im Dorf Gespräche zu führen. Merkwürdig,
wenn ich bei anderen Gelegenheiten Kontakt mit fremden Kulturen suchte, waren es immer die Männer, die mir die Tür zur Gemeinschaft
öffneten. Sie luden mich zu sich nach Hause ein und waren um ein freundschaftliches Verhältnis bemüht. Seit ich unter den
Mosuo weile, muss ich mich, wenn ich eine Information benötige, Besorgungen erledigen oder Unternehmungen koordinieren will,
an eine Frau wenden. Hier hat man so gut wie nie mit einem Mann zu tun.
Yujin Shi Ana, Rugeshi Anas Bruder, wird mein erster männlicher Interviewpartner sein. Ich treffe ihn vor dem Hauseingang
der in Luoshui angesiedelten Familie von Tsunami Ana.
Da sitzen sie. Acht Männer, versammelt um einen Tisch, auf dem 144 verdeckte Mahjong-Spielsteine – sie
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