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Das Paradies ist weiblich

Titel: Das Paradies ist weiblich
Autoren: Ricardo Coler
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zwei Holzstäbchen umgehen! Wie mit einem Vogelschnabel schnappen sie in Windeseile nach
     den begehrten Brocken und führen sie zum Mund. Nicht ohne sie auf dem Weg dorthin noch scharf zu würzen. Ich staune: Die Schoten
     werden wie Nüsse geknabbert und der Pfeffer wie geriebener Käse auf der Speise verteilt.
    Die Familie hat sich mehr oder weniger vollständig zum Abendessen versammelt. Einige sitzen auf niedrigen Bänken etwas abseits
     vom Tisch, andere auf den Bänken, die abends den älteren Herrschaften als Betten dienen. Von einem Holzbalken hängt eine Lampe
     herunter. Tsunami Ana sitzt am Feuer, sie rührt kaum etwas an. Sie hat etwas mitzuteilen:
    »Hanfei wird bei uns leben.«
    Ich suche den Blick von Rugeshi Ana, doch sie weicht mir aus. Alle haben gehört, was die Großmutter gesagt hat. Nur eine der
     Töchter schaut kurz auf, senkt den Kopf aber sogleich wieder.
    Hanfei wird bei uns leben.
    Das war alles.
    Einer dieser Sätze, die die Zeit in ein Vorher und ein Nachher einteilen.
    Ich fühle mich unwohl. Zu Beginn des Mahls unterhielten sich alle vergnügt, doch seit die Matriarchin gesprochen und Fakten
     geschaffen hat, |85| herrscht Schweigen. Man hört nur das Klappern der Stäbchen.
    Deshalb also verhielt sich Tsunami Ana so seltsam und starrte immerzu zur Tür. Hanfei war der Grund.
    Ich werde schon herausfinden, was sich hinter den Worten der Matriarchin verbirgt.
    Die Tochter am anderen Ende der Bank steht auf, füllt den Wasserkrug, und während sie mir nachschenkt, sagt sie, Rugeshi Ana
     habe ihr vom Tango erzählt, sie wolle auch mitmachen. Ich erinnere mich, die junge Frau in Luoshui schon einmal gesehen zu
     haben, als sie sich um das Boot der Familie kümmerte und Zahlungen mit Nachbarn abwickelte. Sie hockt sich neben mich und
     fängt im Plauderton ein Gespräch mit mir an. Offensichtlich will sie mir meine Befangenheit nehmen. Sie erkundigt sich nach
     meiner Familie, ob wir auch alle zusammenlebten und wie man es anstellt, wenn man zwei Elternteile zu betreuen hat. Man ist
     also auf dem Laufenden.
    Rugeshi Ana gesellt sich zu uns, und nach einer Weile wage ich mich vor: »Wer ist Hanfei?«
    Sie zögern ein wenig, doch dann erzählen sie mir, was es mit Hanfei auf sich hat. Hanfei ist seit Jahrzehnten Tsunami Anas
     Geliebter und vermutlich auch der Vater all ihrer Kinder. Sie haben nie zusammengelebt, |86| nicht mal einen Tag haben sie gemeinsam unter ein und demselben Dach verbracht, und das hatten sie auch nie vorgehabt. Jeder
     lebte im Haus seiner Mutter. Tsunami Ana hatte ihren Clan und Hanfei den seinen. Doch seit seinem ersten Besuch in Tsunami
     Anas Gemach hat Hanfei nie eine andere Frau nachts aufgesucht, und umgekehrt war er der Einzige, der seine Mütze an den Haken
     ihrer Tür hängen durfte. Ihre Kinder hat Tsunami Ana allein großgezogen, und selbstverständlich hat Hanfei nie wegen ihrer
     Schwangerschaften seine Alltagsroutine unterbrochen oder ihr bei den Geburten beigestanden.
    Brauchte Tsunami Ana einen Mann im Haus, bat sie ihren Bruder um Hilfe, den sie offenbar sehr mochte. Die Geschwister waren
     sich äußerlich und vom Charakter her sehr ähnlich. Rugeshi Ana kann sich noch gut an ihren Großonkel erinnern: Sie beschreibt
     ihn als wortkargen und sehr starken Mann. Er konnte die Kinder seiner Schwester mit einer Hand durch die Luft wirbeln, auch
     als sie schon älter waren. Wenn ein Haus gebaut wurde, schleppte er allein die größten Holzstämme, für die man normalerweise
     die Kraft zweier Männer benötigte.
    Die Geschwister wuchsen in ärmlichen Verhältnissen auf. Die Mutter starb, als sie noch jung waren, und da es keine erwachsene
     Frau gab, die die |87| Matriarchin hätte ersetzen können, musste Tsunami Ana, damals noch ein Kind, Hand anlegen. Allmählich mehrten sich der Besitz
     und auch die Nachkommenschaft.
    Als ich nachfrage, warum einige von Tsunamis Kindern in Luoshui leben, bekomme ich eine simple Antwort: Das Haus wurde zu
     klein, und es bot sich die Möglichkeit, ein Saatfeld in der Nähe des Sees zu bekommen. Weil die Angelegenheit die gesamte
     Familie anging, durften alle Familienmitglieder ihre Meinung äußern, und am Ende beugte man sich in altbewährter Manier dem
     Votum der Matriarchin. Man ging davon aus, dass sie das Wohl aller im Blick hatte.
    »Hieß es nicht, große Entscheidungen träfen die Männer?«
    »Schon, aber in diesem Haus gilt das wirklich nur für die ganz großen«, erwidert Rugeshi Ana.
    Wie auch
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