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Das Paradies ist weiblich

Titel: Das Paradies ist weiblich
Autoren: Ricardo Coler
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ist der Parkwächter.«
    Der Muffel am Kartentisch vor dem Haus der Anas in Luoshui ist also ein naher Verwandter dieser sympathischen jungen Frau.
    »Ah, kann ich mit ihm sprechen?«
    »Klar, morgen kommen die Mönche aus dem See-Kloster zu uns. An der Feier nehmen fast alle Dorfbewohner teil. Dann können wir
     uns mit ihm verabreden.«

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    |92| 13
    Der bevorstehende hohe Besuch der Mönche vom Lugu-See in Luoshui ist Anlass genug für mich, über die buddhistische Erleuchtung
     nachzugrübeln.
    Ich frage mich, was wäre aus dem Buddhismus geworden, hätte Siddharta Gautama nicht nach der Erleuchtung gestrebt und seine
     Schüler nicht auf ebendiesen Weg geführt?
    Siddhartas Vater, der König von Lumbini, wollte jeden Schmerz von seinem geliebten Sohn fernhalten und hatte deshalb angeordnet,
     dass alle Gefolgsleute, die sichtbare Zeichen von Alterung aufwiesen, ersetzt werden müssten – dem Sohn sollten die Vorboten
     des Todes verborgen bleiben. Und so dachte Siddharta, der immer nur von jungen Menschen umgeben war, dass die Jugend ewig
     währe. Worte wie Schmerz, Alter und Tod existierten in seinem Sprachschatz nicht.
    Doch im Alter von neunundzwanzig Jahren, er war bereits verheiratet und hatte einen Sohn, hatte er auf seinen Spaziergängen
     außerhalb des Palastes |93| vier schicksalhafte Begegnungen, die die treue Dienerschaft des Königs nicht zu verhindern vermochte: Er traf auf einen verkrüppelten
     Greis, einen Fieberkranken, einen Asketen und einen verwesenden Leichnam.
    Danach sah er die Welt mit anderen Augen.
    Ihm wurde bewusst, dass die Reinkarnation nicht neues Leben bedeutete, sondern die Fortsetzung eines Zyklus des Leidens. Sollte
     er weiterhin die Augen davor verschließen oder sich damit beruhigen, dass alles Leid die Kehrseite der Freude war? Oder sollte
     er gegen das Leid der Menschen zu Felde ziehen?
    Er entschied sich für Letzteres – das war über fünfhundert Jahre vor Beginn der christlichen Zeitrechnung.
    Eine der wesentlichen Lehren des Buddhismus besagt, dass Gier, Verlangen und Leidenschaft den Menschen an Erwartungen fesseln.
     Wer nichts verlangt, dem wird auch nichts versagt. Wer das Verlangen in sich auszulöschen vermag und die Gebundenheit an das,
     was Leiden schafft, überwindet, dem ist der Weg zur Erleuchtung geebnet, er vermag das Nirwana zu erreichen.
     
    Es ist kein einziges Wölkchen am Himmel zu sehen, und die Luft ist klar, ein Wetter, wie gemacht |94| für ein buddhistisches Fest. Am Dorfeingang ragt eine Landzunge in den See hinein, dort finden die Festlichkeiten statt.
    Die Mönche haben sich inzwischen in einem kleinen Zelt versammelt, in dem man nur sitzen kann. In zwei Reihen haben sie Platz
     genommen, vor sich ein Brett, auf dem sie verschiedene Gegenstände mit Inschriften in Sanskrit abstellen – Glocken, drehbare
     Zylinder, Metallrohre.
    Ich höre ihre Gebete. Um den Rhythmus vorzugeben, schlagen die Mönche ihre Trommeln. Ein Glockenklang markiert das Ende des
     einen und den Beginn des nächsten Gebets. Sie wiederholen die Gebete im Chor, stundenlang, und genau in dieser Wiederholung
     liegt die Kraft dieser Kulthandlung. Sie rückt das Bewusstsein auf eine andere Ebene. Als träte man aus sich heraus und betrachtete
     sich von einem Standpunkt aus, der nicht mehr an die Materie gebunden ist.
    Ich gehe zu Sanshie, sie ist damit beschäftigt, in einem riesigen Topf herumzurühren. Sinshie, in ihren neuen Kasack gehüllt,
     hilft ihr dabei.
    »Sanshie, warum sind die Mönche hierhergekommen? Was genau wird gefeiert?«
    »Der Tag, an dem die Mönche ins Dorf kommen«, sagt sie betont nachsichtig. Sanshie behandelt mich eben wie einen Mann.
    |95| Schon in der Frühe konnte ich beobachten, wie am Ufer in einer mindestens fünfzig Meter langen Reihe lauter Haufen aus Reisig
     aufgeschichtet wurden. Davor sitzt nun eine alte Frau, hin und wieder hebt sie eine Hand, als wollte sie etwas aus der Luft
     fangen. Auch diese Geste hat etwas Feierliches. Weiter entfernt laufen Kinder zwischen dem Reisig hin und her.
    Ich halte Ausschau nach Yasi Tu Ma, meiner Matriarchin, doch ich kann sie nirgends entdecken. Zu gern würde ich sie einmal
     außerhalb ihres privaten Reiches in einer Gruppe von Menschen erleben.
    Zwölf Mönche machen sich an einer improvisierten Druckmaschine unter freiem Himmel zu schaffen. Sie pressen gelbe und rote
     Fähnchen auf die in Tinte getauchten Schriftzeichen einer Metallplatte. Anschließend hängen sie die Wimpel zum
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