Das Paradies ist weiblich
heißen »Ziegel« – zu
einer Mauer gestapelt |100| sind, die ein Quadrat beschreibt. Es gibt Farbziegel (Grundfarben: Bambus, Zahl und Kreis; sie sind von 1 bis 9 nummeriert
und jeweils vierfach vorhanden) und Trumpfziegel (die vier Winde und die drei Drachen in vierfacher Ausführung; die vier Blumen
und die vier Jahreszeiten, die sogenannten Hasardziegel, sind nur jeweils einmal vorhanden). Vier Spieler erhalten zu Beginn
eine bestimmte Anzahl an Ziegeln, im Verlauf der Partie versuchen sie durch Ziehen und Abwerfen von Steinen möglichst wertvolle
Kombinationen gleichartiger oder aufeinanderfolgender Ziegel zu sammeln. Die übrigen vier Männer schauen zu. Der Parkwächter
fängt an.
Jeden Tag habe ich diese Männer bei dieser Beschäftigung beobachten können, stundenlang. Manchmal schon am Morgen. Erwachsene,
arbeitsfähige Menschen, die ihre Lebenszeit mit Spielen verbringen – warum protestiert keine der Schwestern, Mütter, Geliebten?
Die Frage erscheint mir als guter Einstieg für das Interview.
»Von meiner Schwester kommen keine Klagen«, gibt Yujin Shi Ana lapidar zurück.
»Und Ihre Geliebte?« Beinahe hätte ich »Frau« gesagt, ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen.
|101| »Meine Geliebte? Warum sollte sie?«
Warum sie sollte? Man braucht nur aufzuschauen, und schon entdeckt man überall vielbeschäftigte Frauen.
Doch er sagt: »Die Mosuo-Frauen wissen, dass sie arbeiten müssen, und sie wissen, dass sie dafür am besten geeignet sind.«
Ich bohre weiter: Wie sieht sein Tagwerk aus?
Woraufhin er mir knapp erklärt, er kümmere sich um den Erhalt der Umwelt.
Damit versiegt sein nicht zu bremsender Redefluss. Mehr ist aus ihm nicht herauszuholen. Sich mit ihm zu unterhalten ist,
als klopfe man an die Tür einer leerstehenden Wohnung und erwarte, dass jemand aufmacht. Ich erhebe mich, gehe wieder ins
Haus und suche Rugeshi Ana. Sie ist in der Küche und lässt sich von mir nicht bei ihrer Arbeit unterbrechen.
»Er ist ganz schön abweisend.«
»Zumindest gibt er sich so, vor allen Dingen mir gegenüber, weil ich die Jüngste bin. Im Beisein meiner älteren Schwester
ist er lammfromm.«
Rugeshi bittet mich, kurz zu warten, und kehrt wenig später mit ihrer Schwester, der Matriarchin, zurück. Diese ist ungefähr
vierzig, kleiner und schlanker als Rugeshi. Mit gemischten Gefühlen beobachte ich, wie sie sehr entschlossen auf die Tür |102| zusteuert. Ich bin überzeugt, dass ich mir gerade einen Feind fürs Leben schaffe. Die Demütigung vor seinen Freunden wird
Yujin Shi mir niemals verzeihen.
Aber, nein. Ich vergaß, dass die Uhren hier anders ticken. Als er seine Schwester erblickt, steht der mürrische Parkwächter
in vorauseilendem Gehorsam auf und überlässt seinen Platz einem anderen. Es ist etwas Kindisches in seinem Verhalten. Er beeilt
sich, eine Entschuldigung vorzubringen, dann, als wäre nichts geschehen, gehen alle wieder zurück auf ihren Posten.
Ich verdrücke mich ebenfalls und beschließe, mein Glück an der Bootsanlegestelle zu probieren, wo die Ankunft der Mönche gefeiert
wurde.
Die Boote, insgesamt etwa zwanzig, sind rustikal, aber solide aus gut gewachsenen Holzstämmen gebaut. Sie liegen halb im Wasser,
halb an Land, damit sie nicht durch die Strömung abgetrieben werden.
In einem Boot finden zwischen acht und zehn Leute Platz. Für ein paar Yuan kann man sich zum Tempel oder in einen Nachbarort
rudern lassen und sich einen langen Fußmarsch ersparen.
Der Personentransport auf dem Wasser ist neben Ackerbau und Viehzucht eine der wenigen Erwerbsquellen im Dorf, weshalb die
damit verbundenen Aufgaben und Einnahmen gerecht unter den |103| Familien aufgeteilt werden. Jede muss ein Mitglied stellen, das in Schichten von sechs Stunden beim Bau der Boote mitwirkt,
und später werden die Passagiere in turnusmäßigem Wechsel einem Ruderer zugeordnet. Die Einnahmen kommen in einen gemeinsamen
Topf, aus dem alle Familien zu gleichen Teilen entlohnt werden. Damit vermeidet man Streit um Fahrten und ein schlechtes Klima
unter den Bewohnern.
Ich sitze seit bald zwei Stunden hier und genieße die Ruhe am Wasser. Trotz meines lächerlichen blauen Regencapes bin ich
keine Attraktion mehr, niemand hält sich mehr an mir auf. Das kommt mir nicht ungelegen, so kann ich unbehelligt mein Stativ
aufbauen und in aller Ruhe ein paar Fotos schießen.
Zunächst entscheide ich mich für eine Panorama-Aufnahme, dann fotografiere ich
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