Das Paradies
wurde als wahrer Held zu Grabe getragen.«
»Ich hoffe, er ist dafür ins Paradies gekommen«, sagte Amira.
»Durch Gottes Barmherzigkeit sind Zeinab und ich verschont geblieben. Wir sollten bei Dahibas Überraschungsparty dabei sein. Aber wir wurden unterwegs aufgehalten, weil ich vor Medina Herzbeschwerden bekam. Sonst wären wir vielleicht unter denen gewesen, die …« Sie wies auf das Zeitungsbild. Der Club war nicht wiederzuerkennen. Es hatte viele Opfer gegeben.
Khadija sah ihre Enkeltochter nachdenklich an, bevor sie wieder zu ihrem Platz zurückging. Sie setzte sich und schwieg. Dann sagte sie leise: »Und jetzt, Amira, werde ich dir das letzte Geheimnis verraten. Ich habe dir schon gesagt, daß ich meine Familie nicht kannte, daß ich als kleines Mädchen auf dem Sinai entführt worden bin. Aber was du nicht weißt, was niemand weiß, selbst dein Vater nicht – was ich selbst nicht wußte, bevor es mir im Katharinenkloster wie Schuppen von den Augen fiel –, ist, was danach geschah. Und es fällt mir sehr schwer, darüber zu sprechen.«
Amira sah ihre Großmutter abwartend an.
»Nach dem Überfall auf die Karawane meiner Mutter in der Nähe des Katharinenklosters«, begann Khadija schließlich, »brachte man mich in das Haus eines reichen Kaufmanns in Kairo, der kleine Mädchen liebte. Die Frauen in seinem Harem gaben mir zu essen, badeten mich, parfümierten mein Haar und führten mich nackt in ein prächtiges Zimmer. Dort saß ein großer Mann auf einem Stuhl wie auf einem Thron. Ich geriet in panische Angst, als er mich streichelte, mich berührte und mir sagte, es werde mir nichts geschehen. Dann hoben mich die Frauen hoch und setzten mich auf seinen Schoß. Ich hatte entsetzliche Schmerzen. Ich schrie.« Khadija blickte auf ihre Hände. »Ich war damals sechs Jahre alt.«
Eine Fellachin mit einem Wasserkrug auf dem Kopf wünschte den beiden Frauen auf der Veranda im Vorbeigehen einen guten Morgen. Sie war völlig schwarz gekleidet, und ihr langer, schmaler Schatten bewegte sich vor ihr auf den Fluß zu.
Khadija fuhr fort: »Danach ließ mich der reiche Kaufmann jeden Abend in sein Zimmer bringen. Manchmal lieh er mich an seine Freunde oder an wichtige Gäste aus und sah zu, wenn ich sie ›unterhielt‹. Ich war dreizehn, als eines Tages Ali Rashid, ein Freund des reichen Kaufmanns, in den Harem kam. Ich gefiel ihm, und er einigte sich mit dem Kaufmann auf einen Preis für mich. Meine Brüste und meine Hüften hatten sich entwickelt, und ich war für den Kaufmann nicht mehr interessant. Ali Raschid wußte, daß ich keine Jungfrau mehr war, aber er sagte zu mir, darauf lege er keinen Wert. Er wollte mich, und so kam ich in das Haus in der Paradies-Straße.«
Sie räusperte sich. »Damals war die Sklaverei bereits abgeschafft, und man hätte sowohl Ali als auch den Kaufmann bestrafen können. Ali erklärte mir das und sagte, er schenke mir die Freiheit. Dann hat er mich geheiratet. Ein Jahr später wurde Ibrahim geboren.«
»O Umma«, sagte Amira. »Wie schrecklich muß das alles für dich gewesen sein.«
»Ja, so schrecklich, daß ich es aus meinem Bewußtsein verbannte. Ich habe mich als kleines Mädchen so sehr gegen die Wirklichkeit gewehrt, gegen das Leben einer Sklavin, daß ich die Wahrheit mit meiner ganzen Willenskraft verleugnete. Ich wollte alles vergessen, und ich hatte es vergessen.«
Sie ließ den Kopf sinken und murmelte mehr zu sich selbst: »Dazu ist das Bewußtsein fähig, Amira.«
Als Khadija sich wieder aufrichtete, klang ihre Stimme gefaßt.
»Mit den unerträglichen Erinnerungen an diesen Harem begrub ich auch alles, was davor lag. Erst sehr viel später sollte ich begreifen, daß ich mir mit dem Vergessen ein Gefängnis geschaffen hatte. Ich stand vor der Vergangenheit wie vor einer undurchdringlichen Wand, die mich von meiner Seele trennte.«
Sie lächelte und fuhr fort: »Dann begann mein Leben an Alis Seite. Für seine Mutter und für ihn wurde ich zu einem gefügigen Werkzeug. Ich ließ alles willenlos geschehen, denn ich suchte nur Sicherheit und Schutz. Verstehst du, die Angst hat mich aufgerieben und schwach gemacht. Sie wuchs mit jedem Tag, denn ich hatte das Wissen um meine Vergangenheit, meine Identität verloren.«
Sie schwieg und schüttelte langsam den Kopf. Amira wagte kaum zu atmen. Khadija blickte auf den Fluß, aber ihre Worte kamen wie aus einer anderen Welt.
»Erst nach Alis Tod stellten sich die Träume ein … seltsame Ahnungen. Sie wurden
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