Das Parfum: die Geschichte eines Mörders
an einem heißen Sommertag zur Mittagsstunde, wenn alles draußen auf den Feldern ist oder sich in den Schatten der Häuser verkriecht. Kein Tritt, kein Räuspern, kein Atmen war mehr zu hören. Die Menge war nur noch Auge und offener Mund, minutenlang. Kein Mensch konnte es fassen, dass der windige, kleine, geduckte Mann dort oben am Fenster, dieses Würstchen, dieses armselige Häuflein, dieses Nichts, über zwei Dutzend Morde begangen haben sollte. Er sah einem Mörder einfach nicht gleich. Niemand hätte zwar sagen können, w i e er sich den Mörder, diesen Teufel, eigentlich vorgestellt hatte, aber alle waren sich einig: so nicht! Und dennoch - obwohl der Mörder den Vorstellungen der Leute so gar nicht entsprach und seine Präsentation daher, wie man würde meinen können, wenig überzeugend hätte wirken sollen, ging paradoxerweise allein von der Leibhaftigkeit dieses Menschen am Fenster und von der Tatsache, dass eben nur er und kein anderer als Mörder präsentiert wurde, eine überzeugende Wirkung aus. Sie dachten alle: Das kann doch nicht wahr sein! - und wussten im selben Moment, dass es wahr sein müsse.
Freilich, erst als die Wachen das Männlein wieder zurück ins Dunkel des Zimmers gezogen hatten, erst als es also nicht mehr gegenwärtig und sichtbar, sondern nur noch, wenn auch für kürzeste Zeit, als Erinnerung, fast möchte man sagen als Begriff in den Hirnen der Menschen existierte, als Begriff eines abscheulichen Mörders - da erst wich die Verblüffung der Menge und schaffte Raum für eine angemessene Reaktion: Die Münder klappten zu, die tausend Augen belebten sich wieder. Und dann erscholl es in einem einzigen donnernden Wut-und Racheschrei: «Wir wollen ihn haben!» Und sie schickten sich an, die Prévoté zu stürmen, um ihn mit eigenen Händen zu erwürgen, zu zerreißen und zu zerstückeln. Die Wachen hatten alle Mühe, das Tor zu verrammeln und den Mob zurückzudrängen. Grenouille wurde schleunigst in sein Verlies gebracht. Der Präsident trat ans Fenster und versprach ein schnelles und exemplarisch strenges Verfahren. Trotzdem dauerte es noch Stunden, ehe sich die Menge verlaufen, noch Tage, eh sich die Stadt leidlich beruhigt hatte.
In der Tat ging der Prozess gegen Grenouille äußerst zügig vonstatten, da nicht nur die Beweismittel erdrückend waren, sondern der Angeklagte selbst bei den Vernehmungen ohne Umschweife die ihm zur Last gelegten Morde gestand.
Allein nach seinen Motiven befragt, wusste er keine befriedigende Antwort zu geben. Er wiederholte immer nur, er habe die Mädchen gebraucht und sie deshalb erschlagen. Wozu er sie gebraucht habe und was das überhaupt bedeuten sollte, «er habe sie gebraucht» – dazu schwieg er. Man überantwortete ihn daraufhin der Folter, hängte ihn stundenlang an den Füßen auf, pumpte ihm sieben Finten Wasser ein, setzte Fußzwingen – ohne den geringsten Erfolg. Der Mensch schien gegen Körperliche Schmerzen unempfindlich, gab keinen Laut von sich und sagte, wenn er abermals befragt wurde, nichts als: «Ich habe sie gebraucht». Die Richter hielten ihn für geisteskrank. Sie setzten die Folter ab und beschlossen, das Verfahren ohne weitere Vernehmungen zu Ende zu bringen.
Die einzige Verzögerung, die sich noch ergab, war ein juristisches Geplänkel mit dem Magistrat von Draguignan, in dessen Vogtei La Napoule gelegen war, und dem Parlament in Aix, welche beide den Prozess an sich bringen wollten. Aber die Grasser Richter ließen sich die Sache nicht mehr entwinden. Sie waren es gewesen, die den Täter gefasst hatten, in ihrem Zuständigkeitsbereich war die überwiegende Anzahl der Morde begangen worden, und ihnen drohte der geballte Volkszorn, wenn sie den Mörder einem anderen Gericht überließen. Sein Blut musste in Grasse fließen.
Am 15. April 1766 wurde das Urteil gefällt und dem Angeklagten in seiner Zelle verlesen: «Der Parfumeurgeselle Jean-Baptiste Grenouille», so hieß es da, «soll binnen achtundvierzig Stunden auf den Cours vor die Tore der Stadt geführt, dort, das Gesicht zum Himmel, auf ein Holzkreuz gebunden werden, bei lebendigem Leib zwölf Schläge mit einer eisernen Stange erhalten, die ihm die Gelenke der Arme, Beine, Hüften und Schultern zerschmettern, und danach auf dem Kreuze angeflochten aufgestellt werden bis zu seinem Tode.» Die übliche Gnadenpraxis, den Delinquenten nach dem Zerschmettern mittels eines Fadens zu erwürgen, wurde dem Scharfrichter ausdrücklich untersagt, auch wenn der
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