Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Parsifal-Mosaik

Titel: Das Parsifal-Mosaik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Ludlum
Vom Netzwerk:
drängelte sich eine lärmende Menschenmenge unter der riesigen Kuppel. Das Kreischen der Bremsen mischte sich mit dem Heulen der abfahrenden Züge. Stimmen schrien sich Flüche zu und übertönten das betäubende Brüllen. Offensichtlich streikten auch die Gepäckträger. Er brauchte beinahe fünf Minuten, bis er den Bahnsteig mit den zwei Gleisen erreicht hatte. Dort war gerade ein überfüllter Zug aus dem Norden eingetroffen, während der Venezia-Expreß im Begriff war abzufahren. Unter den aussteigenden und einsteigenden Fahrgästen gab es ein Geschiebe und Gedränge. Koffer, Kisten und mit Seilen verschnürte Pakete wurden herumgestoßen, kreischende Kinder von ärgerlichen Männern und Frauen getreten und beschimpft. Plötzlich sah er auf der anderen Seite des Bahnsteigs durch die Menschenmenge hindurch von hinten den Kopf einer Frau, die Krempe eines weichen Huts verdeckte ihr Gesicht. Sie war gerade aus dem Zug aus Richtung Norden gestiegen und hatte sich umgedreht, um mit dem Schaffner zu sprechen. Der Anblick war ihm vertraut: dieselbe Haarfarbe, dieselbe Halsform. Der Hut ähnelte jenem, den sie getragen hatte. Eine solche Situation hatte er schon oft erlebt. Zu oft. Jedesmal hatte er sich von solchen zufälligen Ähnlichkeiten täuschen lassen.
    Schließlich drehte sich die Frau herum, und ein scharfer Schmerz durchzuckte Havelocks Augen und Schläfen, bohrte sich in seine Brust. Das Gesicht auf der anderen Seite der Plattform, das von den hastenden Menschen immer wieder verdeckt wurde, war keine Illusion.
    Das war sie.
    Ihre Blicke trafen sich. Ihre Augen weiteten sich in nackter Furcht. Ihr Gesicht erstarrte in einem Augenblick des Schreckens. Dann riß sie den Kopf herum und stürzte sich in das Menschengewühl vor ihr.
    Michael drückte die Augen zu und öffnete sie wieder. Er versuchte den Schmerz und den Schock und das plötzliche Zittern abzuschütteln, das ihn erfaßt hatte. Er ließ seinen Koffer fallen. Er mußte sich bewegen, hinter dieser lebenden Leiche von der Costa Brava herrennen. Sie lebte! Diese Frau, die er geliebt und die jene Liebe verraten hatte und für sie gestorben war, lebte!
    Hastig drängte er sich zwischen den Fahrgästen hindurch, rief ihr zu, stehenzubleiben. Er raste die Rampe hinauf, durch den mächtigen Steinbogen, achtete nicht auf das Schreien der wütenden Leute, die er beiseite stieß. Er merkte gar nicht, daß man nach ihm trat, nach ihm schlug, spürte die Hände nicht, die an seinen Kleidern zerrten. Sie war nirgends in der Menge zu sehen. Aber er hatte sie gesehen. Und sie hatte ihn gesehen! Was war geschehen? Jenna Karras lebte!

4
    Als hätte ihn plötzlich aus blauem Himmel ein Blitz getroffen, war er wieder in der dunklen Welt, die er hinter sich zurückgelassen hatte. Sie lebte! Seine eigene, ganz persönliche Welt kreiste wie wild unkontrolliert unter der mächtigen Kuppel, inmitten sich drängender, schreiender Menschen. Er mußte weiterrennen, sie finden! Er drängte sich blindlings durch die Menge, schob Arme und gestikulierende Hände auseinander. Zuerst ein Ausgang, dann der andere; und ein dritter und ein vierter. Dann sprach er Polizisten an und versuchte, sie mit seinem dürftigen Italienisch zu beschreiben, und beendete jeden seiner wirren Sätze mit »Emergenza! Emergenza!« Aber er erntete nur Achselzucken und mißbilligende Blicke. Er rannte weiter. Eine Treppe! Eine Tür! Ein Lift! Zweitausend Lire für eine Frau, die in der Damentoilette nachschaute; fünftausend für einen Speditionsangestellten. Nichts. Sie blieb verschwunden.
    Havelock lehnte sich auf eine Mülltonne, der Schweiß rann ihm über Gesicht und Nacken, strömte aus seinen zerfetzten Kleidern, und seine Hände waren aufgeschrammt und bluteten. Einen Augenblick lang dachte er, er müsse sich gleich übergeben. Er mußte sich zusammenreißen, mußte zu sich kommen.
    Und das einzige, was ihm dazu verhelfen wü rde, war, sich weiterzubewegen. Da fiel ihm sein Koffer ein. Die Möglichkeit, daß er immer noch auf dem Bahnsteig stand, war gering, aber immerhin ein Ziel. Er machte kehrt, drängte sich wieder durch die Menschenmassen. Sein Körper schmerzte, sein Wahrnehmungsvermögen war abgestumpft. Er fühlte sich geblendet von den verschwommenen, gestikulierenden Horden, die ihn umgaben. Es kam ihm vor, als befände er sich in einem dunklen Tunnel, angefüllt mit wilden Schatten und wirbelnden Winden. Er hatte keine Ahnung, wie lange er dazu brauchte, um den steinernen Rundbogen

Weitere Kostenlose Bücher