Das Perlenmaedchen
dass in zweihundert Jahren solche Bleichgesichter auf die Perleninsel kommen und im Namen ihres einzigen Gottes das Leben der Inselbewohner für immer verändern sollten.
Alles, was Guama an diesem Tag in der Lagune sagen konnte, war: »Dieses Gefäß stammt von dem Meeresungeheuer. Große Kraft wohnt ihm inne. Gib gut darauf acht, geliebte Enkeltochter, und es wird dafür sorgen, dass du heil zu uns zurückkehrst.« Dann versagte ihr die Stimme.
Auch Huracan überreichte Tonina ein Geschenk, einen kleinen Beutel mit Perlen. »Du wirst viele seltsame Dinge auf dem Festland sehen, Enkelin«, sagte er und blickte ihr in die Augen. »Wenn du zurück bist, kannst du uns von all den Herrlichkeiten berichten.«
»Das werde ich, Großvater«, erwiderte Tonina erregt und gleichzeitig bedrückt, nicht zuletzt weil Macu nicht erschienen war, um ihr Lebewohl zu sagen. Sie umarmte die geliebten Großeltern.
Ehe sie das Kanu bestieg, bückte sie sich noch einmal kurz und griff sich eine Handvoll Sand, den sie in ihrem kleinen Medizinbeutel verstaute, in dem sich bereits eine kleine blaue Strandschnecke sowie ein Delphinzahn befanden – Glücksbringer, die ihre Verbundenheit mit der Insel sicherstellen sollten.
»Ich verspreche dir, lieber Großvater, mit der gesuchten Blume zurückzukommen, damit du noch lange lebst und die Menschen auf dieser Insel vor Stürmen warnen kannst. Dies schwöre ich beim Geist meines Delphintotems.«
Sie bemerkte die bewundernden Blicke der Menge. Wenn sie mit der Heilpflanze zurückkehrte, würde sie endlich Anerkennung finden.
Während sie sich von den anderen verabschiedete, nahm Huracan Yúo, den Ersten Ruderer, beiseite und raunte ihm zu: »Hör gut zu, was ich dir jetzt sage, Neffe: Wenn ihr Festland erreicht habt, schlagt ihr in der ersten Nacht euer Lager am Strand auf. Und sobald Tonina eingeschlafen ist, lässt du mit deinen Männern das Boot wieder zu Wasser, und ihr begebt euch sofort auf den Heimweg.«
Yúo war zunächst verdutzt. Als er dann aber den Blick seines Onkels auffing, begriff er. »Meinst du, sie findet zu ihren Leuten?«, fragte er leise.
Huracan schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Ich habe meine Pflicht erfüllt. Ihr Schicksal liegt jetzt in der Hand der Götter. Toninas Zeit bei uns geht zu Ende.«
Als das Kanu mit den zwanzig Ruderern sowie mit Tonina, die, das Gesicht dem Wind zugekehrt, im Bug kniete, durch die schmale Passage im Riff hinaus aufs offene Meer glitt, wandte sich Huracan gen Osten – und hielt unvermittelt den Atem an.
Toninas Aufbruch hatte ihn davon abgehalten, seiner täglichen Pflicht als Sturmbeobachter nachzukommen. Jetzt spürte er, dass sich ein Unwetter zusammenbraute. Ein gewaltiger Sturm. Ein schrecklicher Sturm.
Sein Blick wanderte wieder zu dem da draußen auf dem Meer so klein und ungeschützt wirkenden Kanu mit der zerbrechlichen Ladung, und entsetzt stellte er fest, dass es schon zu weit weg war, um es zurückzurufen. Er konnte Tonina und die Männer nicht mehr warnen.
Ein Hurrikan zog auf.
ERSTES BUCH
MAYAPÁN
5
Die Perleninsel entschwand zusehends den Blicken, und dann glitt das lange Einbaumkanu mit seinen zwanzig Ruderern, einem Bootsführer und einem Passagier unter dem weiten, wolkenlosen Himmel über das offene Meer. Die Möwen begleiteten sie nicht länger, die sich brechende Brandung war nicht mehr zu hören. Die endlose Stille des Ozeans umgab sie, wurde nur durchbrochen vom rhythmischen Eintauchen der Ruder und von Yúos gleichmäßigem Trommelschlag. Das Gesicht gen Westen gerichtet, kniete Tonina im Bug und blinzelte mit gemischten Gefühlen in das gleißende Sonnenlicht, das von der Oberfläche des kabbeligen Wassers reflektiert wurde.
Für Yúo und seine Männer, allesamt Ruderer von Kindesbeinen an, gab es nichts Schöneres, als mit dem Boot auf die offene See hinauszufahren. Heute jedoch war Yúo, der mit der Trommel den Takt für die Ruderer vorgab, bedrückt. Als Einziger wusste er, was Tonina bevorstand.
Das von Lokono, dem Geist des Alls, gesegnete große Kanu mit den eingeschnitzten und aufgemalten zauberkräftigen Symbolen hatte ein Gewässer erreicht, das noch keinen Namen hatte, später einmal aber die Bezeichnung Yucatán-Kanal tragen sollte. Hier kam der Wind von Norden, und weil die Strömung in Gegenrichtung verlief, wurde die See zusehends rauer. Aber Yúo und seine Männer waren geschickt und stark und lenkten ihren robusten Einbaum, der sich bereits auf langen Strecken bewährt
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