Das Perlenmaedchen
ihm zeigten, was ihm bestimmt war. Während die verrückte Menge weiterhin auf der allmählich dunkel werdenden Plaza feierte, Fackeln entzündet wurden und pulque die Runde machte, stand Prinz Balám wie eine Statue am Rande des Marktplatzes und wusste jetzt ganz genau, was er zu tun hatte.
37
Der Vollmond schien auf das einsam daliegende Ballspielfeld. Tonina wusste, dass Chac heute Nacht nicht hierherkommen würde. Er musste die Gruppe zusammenstellen, die sie nun doch nach Copán begleiten würde.
Um der sterbenden Stadt zu entfliehen oder in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft hatten viele in Tikal Ansässige gebeten, mitkommen zu dürfen. Chac hatte abermals die Führung übernommen, diesmal aber die Menge in Untergruppen aufgeteilt und jeder Verpflichtungen auferlegt. Unter der Leitung der Neun Brüder wurden junge Männer als Sicherheitsposten oder Jäger eingeteilt, die weiblichen Teilnehmer waren, unter der Aufsicht der Ehefrau von Haarlos, für die Beschaffung und den Transport von Nahrungsmitteln zuständig.
Tonina war mit ihren Gedanken noch immer bei dem Zweikampf auf der Plaza. Der Konflikt hatte sie aufgewühlt. Auf der Perleninsel wurden Streitigkeiten unter Männern mit Knüppeln ausgetragen oder in einem Ringkampf. Dass jemand wie Chac in die Höhe sprang und dem Gegner einen derart massiven Fußtritt verpasste, hatte sie noch nie erlebt. Die Auseinandersetzung auf dem Markt hatte ihr aber noch etwas über den Mann verraten, an den sie auf Geheiß der Götter gekettet war: Er verfügte über ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsbewusstsein, an dem er rigoros festhielt. Den ganzen Vormittag über hatte er betont, dass er schleunigst von Tikal aufbrechen müsse. Aber als er mitbekommen hatte, wie die Ananasverkäufer belästigt wurden, hatte er sein eigenes Vorhaben hintangestellt und war ihnen zu Hilfe geeilt.
Es hieß, sie hätten ihm mit einem besonderen Geschenk gedankt. Was das wohl für ein Geschenk war?
Tonina hatte ebenfalls ein Geschenk für ihn. Was sie bewogen hatte, sich von ihren letzten Perlen zu trennen, konnte sie sich nicht erklären. Einem Impuls nachgebend, hatte sie einen Verkaufsstand aufgesucht, dessen Inhaber auf einen einzigen Artikel spezialisiert war. Als sie ihm gesagt hatte, für wen das Geschenk bestimmt sei, hatte der Händler ihr ein Exemplar vorgelegt, das seinen Worten nach nicht für einen x-beliebigen Käufer bestimmt war, sondern auf einen würdigen Interessenten wartete. Und jetzt wusste sie nicht, wie sie ihm ihr Geschenk übergeben sollte.
»Edler Chac«, sagte Einauge vorwurfsvoll, »von dem Kerl, der Wassersäcke verkauft, war zu erfahren, dass Ihr von ihm dreißig Säcke für fünfzig Kakaobohnen erworben habt. Das ist Wucher! Lasst mich mit ihm verhandeln, ich drücke … «
Chac hörte gar nicht zu. Er hatte Tonina zwischen den beiden im Dunkeln liegenden Tempeln Richtung Spielfeld verschwinden sehen.
Geh ihr nicht nach, raunte sein Gewissen.
»Mach, was du willst«, beschied er Einauge. »Sag dem Mann, ich hätte dich beauftragt, mit ihm zu verhandeln.«
»Wo geht Ihr denn hin, Meister?« Mit einem derart ehrerbietigen Titel hatte Einauge noch niemanden bedacht. Aber er fand, dass er bei einem Mann, der sich gegen vier zur Wehr setzte und sie niederrang, angebracht war. »Es gibt noch so viel zu tun.«
Chac indes zog angesichts der kühlen Nacht wortlos seinen Umhang fester um sich und schritt auf die beiden Tempel zu.
Sie war auf dem Spielfeld. Was sie dort tat, ließ sich auf den ersten Blick nicht erkennen. Aber dann –
Chac stieß einen leisen Fluch aus, glaubte seinen Augen nicht zu trauen. »Hast du schon einmal gespielt?«, fragte er, als er näher kam.
Erschrocken fuhr sie herum, hob dann den Ball auf, den sie ein paarmal hochgeworfen hatte, und reichte ihm ihr Geschenk. »Den habe ich für dich erstanden. Der Verkäufer sagte, er sei sein allerbester. Ich dachte … « Sie wusste nicht weiter.
Chac schaute auf die Gummikugel in seiner Hand, spürte, wie kompakt und schwer sie war. Noch nie hatte er ein schöneres Geschenk erhalten. »Die Göttin des Mondes möge dich dafür segnen«, sagte er leise.
»Ich konnte einfach nicht widerstehen, ihn einmal auszuprobieren. Um zu sehen, wie das ist. Beteiligen sich auch Frauen an diesem Spiel?«
»Mädchen ja. Frauen normalerweise nicht. Die eine oder andere aber doch«, erwiderte Chac und grinste.
Im silbernen Mondlicht sah Tonina die Stellen, an denen er nachmittags verwundet worden
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