Das Perlenmaedchen
»So lange ich denken kann, habe ich Situationen gemieden, in denen ich versagen könnte.«
»›Sei niemals ein Versager‹«, murmelte sie. »Bist du sicher, dass sie das damit gemeint hat?«
Er stellte fest, dass das Mondlicht die weiße Bemalung noch deutlicher hervorhob. Auch dies empfand er nicht länger störend, sondern in gewisser Weise sogar als schön. »Was sonst sollte es bedeuten?«, fragte er leise.
Tonina schwieg.
Chac musterte die Linien und Kreise und Punkte auf ihrem Gesicht. Wenn er früher gedacht hatte, sie wären willkürlich aufgetragen, so merkte er jetzt, dass sie sorgfältig im Einklang mit ihren Zügen gemalt worden waren und betonten, was sich darunter an natürlicher Schönheit verbarg.
»Ich werde von einem Albtraum verfolgt.« Niemals hätte er gedacht, über sein innerstes Geheimnis zu sprechen, nicht einmal Paluma hatte er es anvertraut. »Ein Albtraum, in dem ich den Siegestreffer erziele. Aber die Menge jubelt mir nicht zu, sondern verspottet mich, lacht mich aus. Und unversehens wird mir bewusst, dass ich, obwohl man mich den Großen Chac nennt, von den Leuten verachtet werde, weil ich ein unbedeutender Chichimeke bin – ein unzivilisierter Wilder. Sie machen sich über mich lustig, und auch meine Mannschaftskameraden und Freunde kehren mir einer nach dem anderen den Rücken zu. Zu guter Letzt wendet sich auch Paluma von mir ab, und ich bin ganz allein und wache schweißgebadet auf.«
»Du weißt genau, dass es nie dazu kommen wird«, sagte Tonina beschwichtigend.
»Ja, weiß ich, aber mein Herz ist erfüllt von Angst, eines Tages als Betrüger hingestellt zu werden. Dass jemand sagt, Chac ist in Wahrheit gar kein Held. Und deshalb habe ich mich immer geweigert, irgendwie die Führung zu übernehmen. Was wäre denn, wenn ich die Leute dann ins Verderben stürzen würde?«
Darauf wusste Tonina nichts zu antworten. Dass er ihr seine innersten Ängste enthüllte, stürzte sie in Verwirrung. Ebenso verunsichernd war es, mit ihm auf diesem riesigen Spielfeld allein zu sein. Um sie herum erhoben sich dunkle Monumente und der schwarze Dschungel, über ihnen glänzte der sternenübersäte Himmel.
Um irgendetwas zu sagen, schaute sie auf den Ball zu ihren Füßen und versetzte ihm einen kleinen Stoß. »Wie läuft so ein Spiel ab?«
Seine Augen flackerten. Er hatte zu viel von sich preisgegeben. Dieses Mädchen gab nichts auf seine Albträume und inneren Ängste. Was hatte ihm die Zunge gelöst? Er räusperte sich, gab sich so fachmännisch wie beim ersten Antreten neuer Schüler in der Akademie. »Zunächst einmal darf der Ball nicht mit den Händen oder den Füßen berührt werden. Er wird ausschließlich mit den Schenkeln, Hüften und Ellenbogen im Spiel gehalten.«
»Ich habe ja inzwischen ein paar Spiele miterlebt, weiß aber immer noch nicht, wie … «
»So«, sagte Chac, stellte sich hinter sie und legte ihr die Hände auf die Hüften. »Nimm an, jemand hat den Ball zu dir abgegeben. Jetzt bewege die Hüfte so, als wolltest du ihn einem anderen zuspielen.«
Tonina holte mit der Hüfte aus, und Chac war verblüfft, als er die Muskeln unter ihrem Rock spürte. Da war nichts Weiches und Fleischiges wie bei anderen Frauen. Er spürte, wie stark Tonina war. Beim Ballspiel wäre sie durchaus ein ernstzunehmender Gegner.
Er erschrak. Worüber dachte er da nach? Was hatte Tonina mit dem zu tun, was ihm immer am wichtigsten gewesen war, dem Ballspiel? Und schlimmer noch, je länger er von Mayapán weg war, desto mehr verblasste die Erinnerung an Paluma. Stattdessen kreisten seine Gedanken und Träume mehr und mehr um das Mädchen mit den Perlen im Haar.
Er war erstaunt, als er den Ruck spürte, der durch ihren Körper ging. Warum reagierte sie so?
Abrupt entwand Tonina sich ihm, hob den Ball auf und warf ihn ihm zu, ging auf Abstand zu ihm und forderte ihn heraus. Sie war selbst erstaunt, als sie sich auflachen hörte.
Er warf den Ball zurück, und Tonina versuchte ihn mit der Hüfte abzufangen, was allerdings nicht gelang, da ihr langer Rock sie zu sehr behinderte. Leise in ihrer Muttersprache fluchend, blieb sie stehen, raffte den Rock hoch und stopfte ihn sich in den Bund.
Völlig überrascht starrte Chac auf ihre nackten Beine. Unvorstellbar! Alle Frauen trugen ausnahmslos lange Röcke oder Kleider, ob es sich nun um eine einfache Bäuerin handelte oder um eine Königin. Jetzt aber sah er im Mondlicht Schenkel und Waden – kräftige Beine, wie er feststellte.
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