Das Perlenmaedchen
Offenbar konnten es die Beine einer trainierten Schwimmerin mit denen eines Ballspielers aufnehmen.
Ein heller Schenkel blitzte im Mondlicht auf, und der Ball flog wieder auf ihn zu. Er fing ihn mit der Hüfte ab und spielte ihn zurück. Lachend rannte Tonina ihm entgegen, parierte den Ball mit einer Schulter, jauchzte auf, als sie sah, wie weit er flog. Chac spurtete ihm nach, stieg hoch in die Luft, traf ihn mit der Hüfte und dirigierte den Ball in eine andere Richtung, sodass Tonina ihm nachhetzen musste. Chac beobachtete sie, und während er auf den Rückpass wartete, überkam ihn ein fast unwirkliches Gefühl. So unbeschwert war er lange nicht mehr gewesen. Nicht einmal während des schicksalhaften Dreizehnten Spiels hatte er sich ähnlich lebendig und glücklich gefühlt.
Er fing den Rückpass mit der Hüfte ab, vollführte dann eine unerwartete Drehung mit dem Körper, um dem Ball eine Richtung zu geben, auf die Tonina nicht gefasst war. Sie flitzte auf ihn zu, verschätzte sich aber. Der harte Gummiball prallte ihr an die Schläfe. Sie stürzte zu Boden.
Regungslos blieb sie auf dem Rücken liegen.
Chac hielt vor Schreck die Luft an. »Tonina?«, flüsterte er.
Sie rührte sich nicht.
Er rannte zu ihr, sank neben ihr nieder, schloss sie in die Arme. »Tonina! Sag doch was!«
Sie stöhnte. Bewegte den Kopf. Schlug die Augen auf. »Guay!«, stieß sie aus. »Ich habe Sterne gesehen.«
»Kannst du mich erkennen?«, fragte er und sah sich ihre Augen genau an, weil er wusste, dass eine ungleiche Stellung der Pupillen nichts Gutes verhieß. Ihre waren jedoch auf sein Gesicht geheftet. »Eigentlich sollst du mir das Leben retten «, sagte sie und schmunzelte.
»Den Göttern sei Dank«, atmete er erleichtert auf und drückte impulsiv seine Lippen auf die Stelle, wo der Ball sie getroffen hatte, hob sie dann auf und trug sie vom Spielfeld. Noch benommen schlang Tonina die Arme um seinen Hals. Den Kopf an seine Schulter gelehnt, driftete sie ab in eine süße Traumwelt. Chacs Wärme drang durch ihre Kleider und sie spürte seinen Atem an ihrem Hals. Seine kräftigen Arme hielten sie fest und sie wünschte sich, für immer in ihnen ruhen zu können. Sie waren mitten auf freiem Feld, unter einem unendlichen Himmel, und doch war dieser Augenblick ungemein intim.
Chac legte Tonina auf einer mit Gras bewachsenen Stelle nieder und musterte abermals eindringlich ihr Gesicht. »Wie fühlst du dich?«
»Benommen.«
»Ich werde dich zu H’meen bringen.«
»Nein. Es geht schon wieder. Nur einen Moment noch … « Mühsam richtete sie sich auf, blinzelte, um wieder klar sehen zu können.
Chac strich ihr mit dem Daumen über die Stirn, um die Stelle herum, an der sie getroffen worden war, und verschmierte dabei ein weißes Symbol. »Warum zeigst du dich nie ohne Bemalung?«, rutschte es ihm heraus.
»Damit man nicht sieht, wie hässlich ich bin«, sagte sie und war verblüfft, wie leicht ihr dieses Geheimnis über die Lippen gekommen war.
»Dass du hässlich bist, wage ich zu bezweifeln.« Um ein Haar hätte Chac gesagt: Ich finde dich im Gegenteil sehr hübsch. Aber obwohl es der Wahrheit entsprach und obwohl er sich dessen eben erst bewusst geworden war, hielt er sich zurück. Er hatte eigentlich nie so recht darüber nachgedacht, was bei den Maya als schön galt – die schräg nach hinten verlaufende Stirn, die verlängerte Augenform, das fliehende Kinn und die vorstehenden Zähne. Nun war er sich nicht mehr sicher, ob ihm diese Gesichtszüge noch schön vorkamen.
»Auf den Perleninseln findet man mich hässlich«, sagte Tonina leise. »Für die bin ich nicht attraktiv.«
»›Für die?‹ Für dein Volk?«
»Ich stamme nicht von den Inseln.« Sie berichtete, wie Huracan den Korb aus dem Wasser gefischt hatte und er und Guama das Kind wie ihr eigenes großgezogen hatten. »Da die beiden herumerzählten, dass Meeresgötter mich auf die Insel gebracht hätten, wurde ich zur Außenseiterin. Man kreidete mir an, etwas Besonderes zu sein, weil man nämlich auf den Inseln Wert darauf legt, dass alle gleich sind. Und da Inselbewohner sich ihr Gesicht bemalen, griff auch ich zur Farbe, um die Unterschiede zu überdecken. Ich wollte wie sie auszusehen.«
Chac schwieg erst einmal überrascht. »Du kennst dein eigenes Volk nicht?«, fragte er nach einer Weile.
Sie schüttelte den Kopf und wünschte sich, seine Arme würden sie noch umfassen.
»Hast du je daran gedacht, deine Leute zu suchen?«
»Als Kind träumte
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