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Das Perlenmaedchen

Das Perlenmaedchen

Titel: Das Perlenmaedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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dieses hinreißende Geschöpf ihren eigenen Weg gehen lassen.

41
    Bis zum Morgengrauen war das Unwetter abgeflaut, Tageslicht drang in die Unterkunft. Chac und Tonina krochen hinaus in den vom Sturm verwüsteten Dschungel. Es tropfte von Schlingpflanzen und Ästen, Wasserlachen bedeckten den Boden. Der Gesang von Vögeln war zu vernehmen, das Gezeter der Affen, aber keine menschlichen Stimmen.
    Im fahlen Licht sah Chac, dass der Regen viel von Toninas weißer Gesichtsbemalung abgewaschen hatte. Zum ersten Mal nahm er die natürliche Rundung ihrer Kinnpartie wahr, die Form ihrer Wangen und ihrer Brauen. Nicht alle Einzelheiten ihres Gesichts ließen sich erkennen, aber jetzt wünschte er sich, auch noch den Rest zu entdecken.
    »Göttin des Mondes«, entrang es sich ihm. »Tonina, wir haben überlebt! Den Göttern sei Dank.«
    Eine Welle der Gefühle überwältigte ihn – Erleichterung, Angst, Zorn und Begehren. Ganz langsam umschlossen seine Hände ihr Gesicht und er küsste ihren Mund. Sie schlang die Arme um seinen Nacken und erwiderte den Kuss, inbrünstig und lange.
    Und dann hörten sie menschliche Stimmen.
    Tonina und Chac rissen sich voneinander los. Einen Moment hingen ihre Blicke aneinander, dann rannten die beiden den Stimmen entgegen.
    Wie durch ein Wunder hatte die Hängebrücke standgehalten, nur ein paar Planken waren in die Tiefe gestürzt. Nach und nach krochen jetzt Menschen aus ihren Verstecken, benommen und erschöpft. Schweigend zogen sie zurück zum Fluss, wo Chac und Haarlos dafür sorgten, dass einer nach dem anderen die Brücke zur anderen Seite passierte – ein mühevolles und gefährliches Unterfangen, da das Wasser bis kurz unterhalb der Brücke angeschwollen war.
    Am gegenüberliegenden Ufer angelangt, bot sich ihnen ein Bild der Verwüstung.
    Unter einem wolkenverhangenen Morgenhimmel irrten verstörte Menschen herum, mussten feststellen, dass ihre Wohnstätten nicht mehr existierten, die Ernte hinweggefegt worden war, Feuerstellen unter Wasser standen. Von der Ansiedlung war nichts mehr zu erkennen. Männer riefen nach ihren Frauen, Mütter nach ihren Kindern. Es gab rührende Wiedersehensszenen, aber auch entsetzte Aufschreie, wenn jemand Tote entdeckte, die im Schlamm begraben waren.
    Chac und Tonina eilten zu der Stelle, an der ihre Hütte gestanden hatte. Ob von ihrem Gepäck, das sie dort deponiert hatten, wohl noch etwas vorhanden war? Dem war tatsächlich so – Einauge hatte es, um einem Diebstahl vorzubeugen, abends zuvor mit Stricken und Pflöcken gesichert; nichts war weggefegt worden, aber alles mit einer Schlammschicht bedeckt. Auch Toninas durchsichtiger Becher der Prophezeiung war unversehrt geblieben.
    »Habt ihr Poki gesehen?«, fragte H’meen, ihre geretteten Bücher unter dem Arm. »Als das Unwetter losbrach, ist er weggelaufen.«
    Tonina schüttelte den Kopf.
    Jetzt bemerkte H’meen die Wunde an Chacs Bein und griff zu ihrer Ausrüstung. Aber Chac winkte ab. »Kümmert Euch zuerst um mein Volk.«
    Tonina warf ihm einen Blick zu. Mein Volk. Hier veränderte sich etwas Entscheidendes in ihm.
    Auch sie stand vor einem Einschnitt in ihrem Leben. Wenn der Hurrikan derart heftig auf dem Festland getobt hatte, stand zu befürchten, dass er noch unbarmherziger auf dem Meer gewütet und kleine Inseln zerstört hatte. Hatte Großvater sein Volk noch rechtzeitig warnen können? Oder war er längst tot, und die Inselbewohner hatten sich nicht beizeiten gegen das aufziehende Unwetter wappnen können?
    Sie verließ die Gruppe, die in der verwüsteten Siedlung nach Angehörigen und Habseligkeiten suchte, und ging zum Fluss, blickte hinüber zu den verlassenen alten Gebäuden.
    Ich habe sie im Stich gelassen, sagte sie sich. Ich habe nicht intensiv genug nach der roten Blume gesucht. Ich habe mich vereinnahmen lassen von den Leuten, die mir gefolgt sind. Und meine Gefühle für Chac haben mich abgelenkt. Ach Guama! Musstest du meinetwegen sterben?
    Sie spürte, dass jemand zu ihr trat. Ohne aufzublicken, wusste sie, dass es Chac war.
    »Du hattest recht«, sagte er leise, »als du sagtest, wir sollten unsere Hoffnung auf die erdengefangene Göttin setzen.« Er spähte hinüber zu den Bäumen. Dorthin hatte er den Gesteinsbrocken geschleudert. Wo sollte er in dem sturmzerfetzten Grün suchen? Warum hatte er so töricht seinem Zorn nachgegeben und den Stein weggeworfen? »Ich werde nach Palenque gehen«, sagte er. »Aufgeben kann ich nicht. Solange noch die Möglichkeit besteht,

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