Das Perlenmaedchen
die Seelen Palumas und meines ungeborenen Kindes zu retten, muss ich tun, was ich kann.« Er lächelte traurig. »Wer weiß? Wenn ich den Kalksandsteinschacht von Chichén Itzá überlebt habe, was angeblich unmöglich ist, kann ich vielleicht auch die Suche unter Wasser nach einer Göttin überleben.«
Ihre Blicke trafen sich. Chac dachte an die Nacht, die er in enger Umarmung mit ihr verbracht hatte und die so voller Sinnlichkeit und unerfüllter Sehnsucht gewesen war. »Wohin wirst du jetzt ziehen?«, fragte er und hätte sie am liebsten wieder in die Arme geschlossen.
»Ich weiß noch nicht. Soll ich weiter nach der roten Blume suchen? Oder so schnell wie möglich auf die Perleninsel zurückkehren? Ich fühle mich für mein Volk verantwortlich. Vielleicht sollte ich erst die rote Blume aufspüren und mich dann zur Perleninsel aufmachen und nach Überlebenden suchen. Wenn niemand mehr da ist, muss ich von Insel zu Insel ziehen, so lange, bis ich für meine Vergehen gebüßt habe. Aber wofür soll ich mich entscheiden?«
»Möglicherweise ist die Entscheidung bereits für dich getroffen worden.«
»Wie das?«
Chac deutete auf das mit Seegras umwobene Medaillon auf ihrer Brust.
»Ich habe mich stets davor gescheut, diese Umhüllung zu entfernen«, sagte sie leise. »Sobald ich das tue und sehe, was sich darin befindet, werde ich nicht länger Tonina von der Perleninsel sein und nicht mehr dorthin zurückkehren können. Dann muss ich die sein, zu der mich dieses Medaillon macht. Und davor habe ich Angst.«
Sie sah Chac mit großen Augen an. »Woher weiß ich, dass ich diese andere sein kann? Was ist, wenn mein richtiger Platz so weit im Landesinneren liegt, dass ich nie wieder die Brandung des Ozeans oder den Ruf der Delphine vernehmen kann?«
»Du kannst das tun, Tonina.«
In seinem Blick lag eine Aufforderung. Nein, eine Herausforderung.
Sie fühlte sich hin- und hergerissen. Einerseits wollte sie nach Hause. Sie sehnte sich nach ihrer vertrauten Umgebung, nach ihrer Familie, nach dem Meer. Auch wenn sie auf der Perleninsel eine Außenseiterin war, kannte sie das Leben dort und wollte zurück. Vielleicht war die Insel ja vom Unwetter verschont geblieben. Vielleicht hatte Großvater die Menschen rechtzeitig gewarnt, und alles war wie immer.
Aber andererseits trieb sie ein Gedanke um: sie musste herausfinden, wer sie war und wer ihre Eltern waren.
Sie schaute in Chacs dunkle Augen. Und ich möchte mit diesem Mann zusammenbleiben, wünschte sie sich.
Um sich Mut zu machen, holte sie tief Luft, um dann das Medaillon abzunehmen und an dem trockenen, im Laufe der Jahre von Salzwasser und Sonne verwitterten Gras herumzukratzen. Als der flache runde Stein endlich freigelegt war, sah sie …
Tonina schnappte nach Luft. Chacs Brauen schoben sich zusammen. »Göttin des Mondes!«, stieß er aus.
Der Stein war rosafarben und lichtdurchlässig. In der Mitte war ein Bild aus leuchtend roter und grüner Keramik eingearbeitet.
»Es gibt sie also doch, die rote Blume«, murmelte Chac staunend.
»Was hat das zu bedeuten? Nun weiß ich immer noch nicht, was ich tun soll. Die Blume weiterhin hier suchen oder entlang der Küste von Quatemalán?«
»Was du da in der Hand hältst, ist eine Botschaft«, sagte Chac. »Sie weist dir den Weg zurück zu deinen Ursprüngen. Zu deinem Volk. Wenn du diese Blume findest, Tonina, wirst du wissen, wer du in Wahrheit bist.«
Sie musterte die eingravierte Blume – den grünen Stängel und die roten Blütenblätter –, und plötzlich wurde ihr alles klar: Als Guama das Baby aus dem Körbchen hob, hatte sie diese in Stein eingebettete rote Blume bemerkt und gewusst, dass dies ein Hinweis auf Toninas Volk war. Für Großmutter schien festgestanden zu haben, dass Tonina eines Tages dorthin zurückkehren musste. Großvater war gar nicht krank gewesen. Die Geschichte mit der heilbringenden Blume hatte sich Guama nur ausgedacht, um Tonina dazu zu bringen, aus freien Stücken die Perleninsel zu verlassen. Deshalb wich auch Großvaters Beschreibung der Küste von Quatemalán von der von Ozelots Frau ab.
»Ich weiß doch aber nicht, wo ich mit der Suche anfangen soll.«
»Vielleicht kann dir das die erdengefangene Göttin verraten. Wenn du sie befreist … « Chacs Gesicht verdüsterte sich, als er an den Stein dachte.
Auf einmal hörten sie lautes Weinen. Sie wandten sich um und sahen H’meen auf einem Felsblock sitzen, die Hände vors Gesicht geschlagen. »Ich hätte ihm nachlaufen
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