Das Perlenmaedchen
durchströmte sie und pochte in ihrem Bauch, als sie sich fragte, wohin sie ihr Weg führen mochte. Das Gefühl, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen, erfüllte sie mit Zuversicht.
»Den Göttern sei Dank, Bruder! Du lebst!«
Balám tauchte aus dem Wald auf. Chac eilte ihm entgegen und umarmte ihn herzlich.
»Wir haben uns in eine Höhle geflüchtet«, sagte Balám. »Leider gingen dennoch vier Männer verloren. Was für ein Unwetter!« Er rieb sich die Hände und schaute sich um. »Was nun, Bruder? Kehren wir um und ziehen dann nach Teotihuacán?«
Als Chac ihm erklärte, dass er, da er die Karte falsch gedeutet habe, jetzt nicht mehr rechtzeitig Teotihuacán erreichen würde, musste Balám sich ein schadenfrohes Grinsen verkneifen. Und während er Betroffenheit heuchelte, jubelte er im Stillen, Chac mit List und Tücke so weit wie möglich von der Stadt der Götter weggelockt zu haben. Der nächste Teil seines Planes war etwas ganz Neues, das er bis ins Einzelne durchdacht hatte. Auch dieses Vorhaben würde von Erfolg gekrönt sein.
Als Chac erwähnte, dass er jetzt die erdengefangene Göttin suchen wolle, schlug sich Balám auf die Brust. »Lass mich mit dir gehen!«, rief er. »Ich helfe dir bei der Suche, und wenn die Göttin großmütig ist, wird sie vielleicht auch mich Elenden erhören und mir sagen, wo meine geliebte Tochter ist.«
An diesem Abend gesellten sich Balám und seine Männer zu Chacs Gruppe. Mühsam wurden Feuer entzündet, ein kaltes Mahl in bedrückter Stimmung eingenommen. Wegen der Schlangen und Eidechsen, die sich jetzt im Schlamm tummelten, nächtigte man in hamacs hoch über dem Erdboden, um am folgenden Morgen von strahlendem Sonnenschein und blauem, wolkenlosem Himmel geweckt zu werden.
Und einem halb leeren Lager.
Verdutzt kletterte Tonina aus ihrer hamac, um dann festzustellen, dass Balám und seine Männer sich davongemacht hatten.
Chac kam auf sie zu, dicht gefolgt von Einauge und Haarlos. »Hast du etwas von dem Aufbruch mitbekommen?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Warum … «, wollte sie anheben, als man einen markerschütternden Schrei hörte.
H’meen kniete vor ihrer medizinischen Ausrüstung, die sie in höchster Erregung durchwühlte. Mit Tränen in den Augen blickte sie auf.
Der Stein mit den eingeritzten Zeichen war verschwunden.
»Verrat«, raunte Chacs innere Stimme, aber er weigerte sich, hinzuhören. Zu schmerzhaft war der Gedanke, dass Balám seinen Bruder, sie alle hintergangen hatte. Er ist verzweifelt, redete Chac sich ein. Er hat alles verloren, seine Frau ist tot und seine Tochter als Sklavin verkauft worden. Chac verbot sich, über das, was Balám getan hatte, erzürnt zu sein. Aber er war beunruhigt.
»Er ist zu allem fähig«, erklärte Chac seinen Freunden, als sie um ein kleines Feuer herumsaßen und auf einem flachen Stein Mais rösteten. »Balám will unbedingt seine Tochter ausfindig machen und scheut vor nichts zurück. Selbst wenn es ihn und seine Männer das Leben kosten sollte. Kann gut sein, dass sie für immer den Hinweis verschwinden lassen, der den Weg zur Göttin aufzeigt.«
Es galt keine Zeit zu verlieren. Sie mussten entweder vor Balám in Palenque sein oder ihn zumindest einholen. Was ihnen Sorgen bereitete, wurde nicht laut geäußert: Dass Balám bereits einen ansehnlichen Vorsprung gewonnen hatte und seine Männer kräftig und gesund waren, also schneller vorankamen als sie selbst.
Hastig wurde zusammengepackt. Haarlos und die sechs Neun Brüder übernahmen es, Familien zur Hand zu gehen und sie zur Eile anzutreiben.
Häuptling Ozelot suchte Chac auf. »Ich bin schuld an dem, was hier geschehen ist. Weil ich aus der verbotenen Stadt Steine gestohlen, Statuen und Relikte an Durchziehende verkauft habe. An Verstorbenen habe ich mich bereichert. Jetzt ist meine Frau tot und die eingefahrene Ernte vernichtet. Die Götter haben mich für mein schändliches Tun bestraft.« Insgeheim gestand er sich auch ein, dass sich das Unwetter wohl nicht zufällig entladen hatte, als er den Versuch unternahm, diesen Helden zu vergiften.
»Ihr könnt gern mit uns kommen«, beschied Chac den Häuptling, der ohne seinen Backenbart aus Katzenschnurrhaaren weitaus weniger furchterregend wirkte.
Ozelot schüttelte den Kopf. »Ich will hier bleiben und mein Dorf wieder aufzubauen. In aller Bescheidenheit und ohne jemals wieder die Götter zu erzürnen.« Der Häuptling nickte zur Bekräftigung seiner guten Vorsätze; als er sich jedoch
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