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Das Perlenmaedchen

Das Perlenmaedchen

Titel: Das Perlenmaedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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umzureißen drohte, klammerten sie sich an einen riesigen Mahagonibaum.
    »Dorthin!«, rief Chac und deutete auf eine Öffnung in einer Mauer.
    Tonina ließ den Baum los, schrie aber gleich danach auf, da der Sturm sie fortzutreiben drohte.
    Chac hielt sie zurück. Mit einer Hand umschloss er ihr Handgelenk, mit dem anderen Arm packte er sie um die Taille, kämpfte sich mit ihr durch diesen Sturm, der sich, wie Tonina entsetzt feststellte, zu einem veritablen Hurrikan steigerte und aus Nordosten kam. Aus der Richtung der Perleninsel.
    Unweit des ausgespähten Unterschlupfs sahen sie einen Mann liegen, dessen Schädel von einem dicken Ast zerschmettert worden war. Der Sturm trug ihnen die Schreie von Menschen in Not zu, die fortgerissen wurden. Chac tastete sich die Steinmauer entlang, zum Zugang der Hütte. Um Atem ringend taumelten beide ins Innere.
    »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er als Erstes. Dann betrachtete er die Unterkunft. In dem diffusen Licht erblickte er eine übergroße Frau, deren steinerne Augen über ihre Köpfe hinweg ins Leere starrten. Hoffentlich war sie eine Gottheit und verfügte weiterhin über eine gewisse Macht. »Du bist verletzt!«, rief Tonina aus.
    Aus einer klaffenden Wunde an seinem Schenkel rann Blut. »Ist nicht weiter schlimm«, meinte er, aber dann spürte er doch Schmerzen und stellte fest, dass die Blutung unverhältnismäßig stark war.
    Er presste eine Hand auf die Wunde und sah sich suchend nach etwas zum Abbinden um. Tonina war plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. »Tonina!«, rief er. »Komm zurück!«
    Aber alles, was er hörte, war das unheilvolle Heulen und Ächzen der entfesselten Naturgewalten.
    Und da war Tonina wieder, in den Händen Blätter und Ranken. Als Ballspieler kannte sich Chac damit aus, wie man ernstzunehmende Verletzungen behandeln musste. Er schlang oberhalb der Wunde eine Ranke um den Schenkel und zog sie fest, bis die Blutung zum Stillstand kam; die Wunde selbst deckte er mit großen wachsartigen Blättern ab, die er, damit sie nicht verrutschten, mit Schlingpflanzen umwickelte.
    Die Nacht brach herein, das Unwetter tobte weiter. Es war so dunkel, dass sie sich auf ihr Gefühl verlassen mussten, um sich in ihrem Bedürfnis nach gegenseitiger Berührung und Wärme zu finden. Ihre Kleider waren kalt und nass, zitternd schmiegten sie sich aneinander. Chac zog Tonina in die Arme, und sie sank an seine Brust, verschloss die Augen vor den schrecklichen Visionen, die sie verfolgten – Menschen, die in den Fluss stürzten, ihre Schreie, als sie vom Strom mitgerissen wurden. »Glaubst du, sie sind in Sicherheit?«, fragte sie und meinte damit die Freunde.
    »Ich bete zur Göttin des Mondes, dass dem so ist«, flüsterte er. Seine Hand lag auf ihrem feuchten Haar. Irgendwie fand er es beruhigend, diese winzigen Muscheln und Perlen zu spüren, mit denen ihre langen Flechten durchzogen waren. Seltsam, dass er früher diesen Schmuck als ärgerlich und geschmacklos empfunden hatte.
    »Verzeih mir«, wisperte sie an seiner Brust. »Es war mir nicht klar, warum du so dringend nach Teotihuacán musstest. Ich dachte, es handelte sich um ein ganz normales Totenritual. Dass es um die Seele von Paluma ging, ahnte ich nicht.«
    Er vergrub das Gesicht in ihrem Haar und drückte sie an sich. Beide schwiegen. Während der Sturm heulte und um sie herum toste und der Steinbau erbebte, sodass zu befürchten stand, er würde über ihnen einstürzen, dachten Chac, der Ballspielheld, und Tonina, die Perlentaucherin, an nichts weiter, als dass der warme Körper des anderen, diese festen Muskeln, dieser zärtliche Atem sie über das orkanartige Gewitter hinwegtrösteten.
    Chac überließ sich der Erinnerung daran, wie sich Toninas Mund auf seinem angefühlt hatte, als sie ihm im Wasserschacht wieder Leben eingehaucht hatte. Jetzt drückte er die Lippen auf das feuchte Haar dieses so besonderen Mädchens. Bei dem draußen tosenden Wind hörte er nicht, wie Tonina einmal aufseufzte. Tonina! Völlig unerwartet war sie in sein Leben getreten, von den Göttern durch ein ehernes Gesetz an ihn gekettet worden – und jetzt wünschte er sich, nie wieder von ihr getrennt zu werden. Aber er war nicht frei, konnte sein Herz nicht einer anderen schenken. Es war seine Schuld, dass Paluma und sein Sohn hatten sterben müssen. Es war seine Schuld, dass ihre Seelen für immer vergehen und niemals ewige Glückseligkeit erfahren würden. Deshalb musste er sein Leben lang Buße tun – und

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