Das Perlenmaedchen
Karte geworfen? Aber sie war sicher gewesen, dass Chac die Länge der Strecke kannte.
Den anderen in der schweigenden Gruppe ging Ähnliches durch den Kopf. Keiner von ihnen war jemals in der Stadt der Götter gewesen, nicht einmal Einauge. Sie hatten angenommen, Chac wüsste über die Länge der Strecke Bescheid. Aber jetzt, da der Wind durch die notdürftige Unterkunft pfiff, an Umhängen zerrte und nackte Haut auskühlte, wurde ihnen die schreckliche Wahrheit nach und nach bewusst.
Mit einem gurgelnden Aufschrei sprang Chac auf und rannte hinaus.
Sie blickten ihm hinterher, sahen, wie er sich der einsetzenden Dämmerung auslieferte, dem Wind und dem stärker werdenden Regen. Ein unheimliches Gefühl machte sich bei ihnen breit. Sie liebten und respektierten Chac; jeder fühlte sich auf seine Weise verantwortlich für die Situation, in der sie sich jetzt befanden: Einauge, weil er damals die Karte falsch gedeutet hatte; H’meen, weil sie nicht schon früher einen Blick auf die Karte geworfen hatte; Tonina, weil sie der Grund war, weshalb er von seinem Weg nach Teotihuacán abgewichen war.
Tonina verließ die Unterkunft und trat zu Chac. Sie erschrak, als sie sah, dass ihm Tränen übers Gesicht rannen. War denn das Totenritual derart wichtig? »Kannst du die Gebete für Paluma nicht hier sprechen?«, fragte sie.
Die Antwort erfolgte unter Schluchzen. »Dazu ist eine bestimmte Schwesternschaft von Priesterinnen erforderlich. Nur sie können sie erlösen.«
»In einem der Tempel in Tikal gibt es bestimmt auch solche Priesterinnen. Und Tikal könnten wir rechtzeitig erreichen … «
»Was verstehst du denn davon!«, brauste er auf. »Durch meine Schuld wird Palumas unsterbliche Seele für immer ausgelöscht!«
Er ließ sie stehen und ging zum Rande des Lagers, sank dort auf die Knie und reckte die Arme zum dunklen Himmel empor.
H’meen ging auf Tonina zu. Sie musste gegen den immer stärker werdenden Wind ankämpfen und sagte schließlich: »Es hat damit zu tun, auf welche Weise Paluma gestorben ist. Chac hat sich nach einem sehr alten, ganz besonderen Ritual zu richten, das nur von den Priesterinnen in Teotihuacán und nur an einem bestimmten geheiligten Tag abgehalten werden kann. Jetzt ist es zu spät dafür – und ihre Seele bleibt auf ewig verloren.«
»Das tut mir sehr leid«, flüsterte Tonina. Sie suchte nach Worten. »Wenn ich doch nur … « Ihre Stimme erstarb angesichts Chacs unfassbarem Verlust. Traf es wirklich zu, dass es, wie die Maya glaubten, für einen Ermordeten kein Leben nach dem Tod gab, wenn nicht in Teotihuacán bestimmte Gebete gesprochen wurden? »Und nichts kann daran etwas ändern?«
H’meen schüttelte den Kopf, zog ihren Umhang fest um sich und ging zurück in die Hütte.
Chac lag noch immer auf den Knien, rief stumm den Himmel an. Tonina hätte ihm gern geholfen, ihn in seinem Kummer beschwichtigt, aber sie wusste nicht, wie. Er hatte so viel für andere getan, und jetzt, da er selbst Hilfe benötigte …
Die Ananasverkäufer in Tikal fielen ihr ein. Chac hatte für sie gekämpft, und zum Dank hatten sie ihm ein Geschenk gemacht und etwas von einer erdengefangenen Göttin erzählt, die dem, der sie befreite, jeden Wunsch erfüllen würde. Tonina hatte Weiteres über die erdengefangene Göttin in Erfahrung gebracht. Sie lebte unter Wasser, und schon viele hatten versucht, sie zu befreien, aber sie waren samt und sonders gescheitert. Jetzt überlegte sie, ob es sich bei denen, die sich vergeblich bemüht hatten, vielleicht um Maya und damit um ungeübte Schwimmer gehandelt haben könnte. Hatte es jemals ein Inselbewohner versucht? Ein Perlentaucher?
Aber niemand wusste genau, wo die Göttin gefangen gehalten wurde. »Irgendwo in der Nähe von Palenque«, hieß es allgemein, also in einer Gegend, die mit vielen unterirdischen Flüssen und Wasserläufen durchzogen war. Aber da gab es ja noch dieses merkwürdige Geschenk der Ananasverkäufer – einen Gesteinsbrocken, der weder wertvoll noch für etwas gut zu sein schien, der aber, wie sie gesagt hatten, »den Weg weisen« würde.
Da Chac, wie sich Tonina erinnerte, den Stein H’meen für eine nähere Begutachtung gegeben hatte, bat sie die Pflanzenkundlerin, ihn ihr auszuhändigen. Leicht verwundert kam H’meen dieser Bitte nach, und noch verwunderter war sie, als Tonina fragte: »Wie weit ist es bis Palenque?«
»Fünfzig Tage«, sagte H’meen nach einem Blick auf die Karte. Ohne auf den Regen zu achten, der jetzt
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