Das Perlenmaedchen
Ixchel unter Tränen angesichts der Stadt, die wiederzusehen sie kaum noch gehofft hatte, »ließ König Pacal die Wasserkanäle abdecken, und dann fanden seine Ingenieure heraus, wie man Wasser nach oben leitet, sodass die Paläste und Tempel mit fließendem Wasser aus diesen unterirdischen Wasserläufen versorgt werden konnten. Sogar Springbrunnen gab es! Herrliche Springbrunnen!«
Sie lehnte ihren Kopf an Chacs Schulter und weinte leise.
Schweigend und beklommen schritt die Gruppe über die Hauptstraße, an zahllosen Häusern vorbei, allesamt stumme Wächter einer längst vergangenen Zeit. Selbst Kinder und Babys wurden angehalten, leise zu sein, während Hunderte von Augenpaaren die verfallenen Gebäude musterten, derer sich die Natur bemächtigt hatte. Das Schlurfen Hunderter von Füßen und Sandalen über das feuchte Pflaster hörte sich an wie das Raunen von Geistern.
Baláms Magen verkrampfte sich. Sie hatten jetzt schon so viele Ruinenstädte gesehen. Der Anblick beunruhigte seine Maya-Seele zutiefst. Was war aus den bedeutenden Männern geworden, die diese Stadt erbaut hatten? Wo waren ihre Nachkommen?
Stand diese Zukunft auch Uxmal und Mayapán bevor? Allen Maya?
»Da«, sagte Ixchel und hob eine magere Hand, »diese drei Pyramiden dort sind die Zeittempel. Bring mich zu dem mittleren, dem größten.«
Am Fuße der Pyramide angelangt, wies Chac die Menge an, auf der Plaza zu warten. Sofort warfen alle ihr Gepäck ab. Zu seiner Rechten Balám, zu seiner Linken Tonina und dicht dahinter Einauge, stieg Chac sodann, die zarte Göttin auf den Armen, die vielen steilen, nassen und entsprechend glitschigen Stufen hinauf.
Die Zurückbleibenden machten sich nicht wie gewöhnlich daran, ein Lager zu errichten, sondern verharrten ungemein still und gespannt. Was würde jetzt geschehen? Welche Wunder würde die Göttin bewirken? Jeden bewegte die gleiche Frage: Werde ich heute geheilt? Werde ich mein Glück finden? Bin ich bald aller Sorgen enthoben?
Als sie das aus Stein errichtete Heiligtum oben auf der Pyramide erreichten, bat Ixchel, ins Innere gebracht zu werden. Chac spürte, wie ihr magerer Körper vor Erregung zitterte. Auch er war aufs äußerste angespannt, sein Herz raste. Welches Wunder war zu erwarten? Tonina, die neben ihm stand, stockte der Atem, als sie überlegte, welche Wünsche die Göttin erfüllen würde. Und der missmutige und verärgerte Balám grübelte darüber nach, wie er es anstellen sollte, damit die Göttin seinen Wunsch wahr machte.
Aber kaum dass sie das düstere und unangenehm feuchte Innere betreten hatten, rief Ixchel aus: »Wo sind die Priester? Wo sind die Opfergaben und der Weihrauch?« Ihre Befreier erschraken. Würde sie zornig werden, weil sich niemand um ihren Schrein gekümmert hatte? Würde sie, anstatt Wünsche zu erfüllen, Fluch auf ihre Häupter laden?
Sie schritten den schmalen Gang entlang, dessen Mauern ebenso wie der Fußboden feucht waren, und gelangten in ein Heiligtum, das aus einem niedrigen steinernen Altar und einer massiven Steinstele bestand, in die ein großes Kreuz und jeweils neben dem Kreuz ein Gott und ein König gemeißelt waren. Da es derartige Schreine auch in Mayapán und Uxmal gab, erkannten Chac und Balám in dieser Stele den Weltenbaum, wussten, dass das Kreuz die heilige Pappel darstellte – den Baum des Lebens –, auf die sich der Glaube der Maya begründete: Der Hauptstamm des Kreuzes erwuchs aus der Unterwelt, der waagrechte Querbalken stützte den Himmel. Die verzerrte Fratze eines Monsters am Fuße des Kreuzes symbolisierte die Unterdrückung des Bösen in der Welt.
Behutsam setzte Chac Ixchel auf dem feuchten Steinboden ab, stützte sie, bis sie allein stehen konnte. Während sich die alte Frau wortlos umsah, bemühten sich ihre Begleiter, nicht ungeduldig zu erscheinen. Einauge war alles andere als erbaut, quasi auf Tuchfühlung den Mann neben sich zu wissen, der ihn um ein Haar umgebracht hatte und das immer noch tun konnte; Balám indes dachte an nichts anderes als daran, die Göttin zu bitten, ihm Ziyal wiederzubringen.
Jetzt wandte sich Ixchel einer morschen Holztruhe zu, deren Deckel zersplittert auf dem Boden lag. Nachdem sie in die Truhe geschaut hatte, flüsterte sie: »Den Göttern sei Dank, es ist noch da.«
»Die Truhe ist leer, Heilige Herrin«, stellte Chac nach einem Blick hinein fest.
»Heb den Boden der Truhe hoch.«
Er kam der Aufforderung nach. Ein merkwürdiges Bündel kam zum Vorschein. »Dürfte ich es
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