Das Perlenmaedchen
einer Querstange, mit einem Strick um die Füße.
Erstaunt schaute sie den Vogel an. Von dem prächtigen Quetzal hatte sie schon gehört, einem kleinen grün und rot gefiederten Papagei mit langen grün schillernden Schwanzfedern, die wertvoller waren als Gold oder Jade. Da der Quetzal zu Kukulcán gehörte, einem der höchsten Gottheiten der Maya, wurde jeder, der diesem geheiligten Vogel nachstellte, mit dem Tode bestraft. Aber obwohl Tonina durch so manchen Dschungel gezogen war – ein Blick auf den sagenhaften Vogel war ihr nie vergönnt gewesen.
Er hockte ruhig auf seiner Stange, das stramme rote Brüstchen gewölbt. Die langen, wunderschönen Schwanzfedern hingen bis zum Boden der Höhle herab. Ixchel strich ihm über das Köpfchen. »Er wurde mit mir zu diesem lebenslangen Tod verurteilt und war mir über all die Jahre hinweg ein treuer Freund.«
Der Strick um seine Krallen war lang genug, dass er bis zur Kuppel der Höhle fliegen und dort herumflattern, nicht jedoch durch die Öffnung entkommen konnte. Tonina dachte nach. Wenn sie den Vogel freiließ, würden dann Chac und die anderen ihn beim Herausfliegen sehen und wissen, dass sie auf der Hügelkuppe nach ihnen suchen mussten?
Als sie Ixchel diesen Vorschlag machte, meinte die Göttin: »Ja, genau das sollten wir tun. Aber gib ihm ein Zeichen mit, damit deine Freunde sehen, dass er von mir kommt und kein frei herumfliegender Vogel ist.«
Bereitwillig ließ sich der Quetzal von Ixchel ein Band um eines seiner Beine befestigen. Nachdem Tonina ihn mit ihrem Messer von seiner Fessel befreit hatte, klatschten beide Frauen in die Hände, worauf der Vogel nach oben flog.
Sie beobachteten, wie er durch die Öffnung ins Freie gelangte – und die falsche Richtung einschlug! Zu spät fiel Tonina ein, dass die Paarungszeit des Quetzal vom Frühjahr bis zum Sommer dauerte. Begab er sich instinktiv auf die Suche nach einem Weibchen?
Wie gebannt schauten sie zur Öffnung der Kuppel, zu dem Fleckchen zusehends dunkler werdenden Himmel.
Nichts.
Die Zeit schleppte sich dahin.
Plötzlich – kehrte der Vogel zurück! »Nein!«, rief Tonina, als er sich auf seiner Stange niederließ. Ixchel sprach auf ihn ein, streichelte seinen Kamm. Dann klatschte sie abermals in die Hände, und wieder flog er auf. Und als hätte er diesmal verstanden, worum es ging, schlug er nach dem Passieren der Öffnung die richtige Richtung ein.
Chac, der vor dem Eingang der Höhle wartete, wurde unruhig. Tonina war schon viel zu lange da drin. In welcher Tiefe des Hügels befand sich das Gefängnis der Göttin? Wenn Tonina in einen unterirdischen Fluss geraten war, der sich bis in die Bucht von Campeche erstreckte – was dann? Sie würde ins Meer geschwemmt werden! Er haderte mit sich, weil er sie hatte gehen lassen. Es musste doch noch andere Möglichkeiten geben, die Göttin zu befreien! Dann warf er seinen Umhang ab und wollte zurück in die Höhle.
»Nein, Herr!« Haarlos versuchte ihn aufzuhalten. »Das überlebt Ihr nicht!«
Aber Chacs Entschluss stand fest.
Bis plötzlich Einauge rief: »Da! Was ist das?«
Mit den Händen schirmten sie die Augen vor dem schrägen Sonnenlicht ab, schauten in die Höhe und erblickten den wunderschönen Quetzal, dessen grün schimmernder langer Schwanz wie eine Fahne entfaltet war. Der Vogel beschrieb einen großen Kreis über ihnen.
»An seinem Bein ist etwas befestigt«, sagte Chac. »Ein frei lebender Vogel ist das nicht.«
Als jetzt der Quetzal im Sturzflug auf die Hügelkuppe zuhielt, lief Chac los. Die anderen folgten ihm.
Sie erklommen den Hügel, ohne den Vogel aus den Augen zu lassen, der nach unten stieß und dann wieder aufstieg und kreiste und sich wieder nach unten sacken ließ. Dementsprechend durchsuchte die kleine Gruppe, oben angekommen, hastig das dichte Gestrüpp und entdeckte schließlich die Öffnung im Boden.
Chac ließ sich auf die Knie nieder und rief nach unten. Gleich darauf vernahm er Toninas Antwort: »Ich bin hier! Und ich habe sie gefunden! Lasst Seile herunter und zieht uns hoch!«
Eine rasch geknüpfte Schlinge und eine hamac wurden hinuntergelassen. Tonina half Ixchel, sich in die hamac zu setzen. Als auch sie neben ihr Platz nahm und sie festhielt, wusste sie, um was sie, oben angekommen, die Göttin bitten wollte: Dass sie Chac einen Wunsch erfüllen möge. Ich kann meine Familie immer noch suchen, überlegte sie, als sie langsam nach oben gehoben wurden. Aber Paluma bleiben nur noch fünfzig Tage
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