Das Perlenmaedchen
…
Während Tonina und Ixchel von denselben Männern hochgehievt wurden, die Haarlos aus dem Sumpf gezogen hatten, hatten sich auch Baláms Krieger auf dem Hügel eingefunden. Sie hielten sich in Bereitschaft, um sich der Göttin zu bemächtigen, sobald sie auftauchte. Mit heftigem Widerstand der anderen rechnete Balám nicht; sie wären gar nicht darauf gefasst. Er würde sich die Göttin schnappen und mit ihr verschwunden sein, noch ehe Chac sein Messer zücken konnte.
Als dann aber die weißhaarige Frau erschien, fielen gleich allen anderen auch Baláms Männer auf die Knie und berührten mit der Stirn den Boden. Selbst Balám war wie gebannt. Eine leibhaftige Göttin weilte unter ihnen.
Chac half Tonina aus dem Tragegurt. »Den Göttern sei Dank, dass dir nichts passiert ist«, sagte er. »Und nun sprich, Tonina. Wenn jemand hier einen Wunsch vortragen darf, dann du. Du hast dein Leben aufs Spiel gesetzt, um die Göttin zu retten, während ich hier draußen in Sicherheit war.«
Tonina lächelte nur und legte ihm die Hand auf den Arm. »Chac, das ist Ixchel, und sie will uns so gut sie kann dafür entlohnen, dass wir sie befreit haben. Du musst Palumas Seele retten.« »Erhabene Herrin«, sagte Chac und kniete vor Ixchel nieder. »Wir verehren Euch … « Seine Stimme versagte.
Mit Tränen in den Augen sah Ixchel ihre Retter an und dann hinauf zum Himmel, zu den Wolken und zu den Bäumen, die sich wie ein grünes Meer bis zum Horizont zogen. »Bin ich wirklich und wahrhaftig frei?«, flüsterte sie, vor Freude zitternd.
»Wir sind Eure Diener!« Balám hatte seine Erstarrung abgeschüttelt und sofort erkannt, dass es nicht leicht sein würde, der Göttin habhaft zu werden. »Wie können wir Euch behilflich sein?«
»Ich möchte die Zeittempel aufsuchen. Aber ich fürchte, dass ich nicht so weit laufen kann.«
Balám schlug sich an die Brust. »Gestattet mir, Euch zu tragen.«
Sie musterte ihn eingehend, gewahrte seine spitz zulaufende Stirn, die schräg stehenden Augen, das fliehende Kinn und die große, künstlich verbreiterte Nase.
Dann sah sie auf den vor ihr knienden Chac hinunter. Seine Gesichtszüge gefielen ihr – gerade Nase, eckiges Kinn. Obwohl das zu einem Jaguarschweif hochgebundene lange Haar, die Ohrstecker aus Jade und die Tätowierungen typisch für einen Maya waren … war er kein Maya. »Ich möchte, dass dieser Mann hier mich trägt«, sagte sie.
Balám verzog sich missmutig, während Chac behutsam die federleichte Frau hochhob und sich zusammen mit Tonina und dem Quetzal, der über ihnen seine Kreise zog, auf den Weg machte. Es war eine eindrucksvolle Prozession, die den Hügel hinunter und durch den Wald auf das sagenumwobene Palenque zustrebte.
44
Die alte Stadt lag in einer Region namens Ost-Chiapás, einem felsigen Hochland, das sich über einer dicht bewaldeten Küstenebene erhob. Hier befand sich die westliche Grenze des Einflussgebiets der Maya. Jenseits davon, in den Bergen mit den schneebedeckten Gipfeln von Chiapás, bediente man sich nicht der Maya-Sprache, richtete sich nach anderen Kalendern und betete zu fremden Göttern.
Die Stadt selbst, die unendlich viele Gebäude, Bauwerke und Wohnhäuser umfasste, erstreckte sich am Fuße mehrerer Hügel. Der morgendliche Dunst, der die massiv gemauerten Gebäude und die dahinter liegenden Bäume umwaberte, trug zu einer geheimnisvollen, unirdischen Atmosphäre bei. Alles deutete darauf hin, dass die Stadt nicht anders als Copán und größtenteils auch Tikal seit Jahrhunderten verwaist war. Und wenn der blutrote Putz und die leuchtend blauen Ornamente zwar noch hier und da erhalten waren, zeigte sich Ixchel überrascht, die Plaza und die Tempel in einem derart verwahrlosten Zustand vorzufinden. War sie denn schon so alt?
»Vor langer Zeit wurde die Stadt aufgegeben, warum, weiß man nicht. Dennoch waren zu meiner Zeit noch einige Viertel bewohnt«, erklärte Ixchel, während ihre Begleiter mit großen Augen die Pyramiden mit den vielen Stufen anstarrten, die in den Dunst emporwuchsen. Brüllaffen und Papageien hoben ein ohrenbetäubendes Geschrei an, als die Gruppe von mehreren Hundert Menschen die Stadt betrat. Chac und Balám staunten über einen tiefen, von Menschenhand angelegten Kanal, dessen reißendes Wasser durch die Straßen floss, unversehens an einem Ende unter dem Kopfsteinpflaster der mit Unkraut überwucherten Plaza verschwand und am anderen Ende wieder zum Vorschein kam.
»Vor Hunderten von Jahren«, sagte
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