Das Perlenmaedchen
anmutigen Nacken frei. Leuchtende Farben standen ihr gut, befand er, das Scharlachrot und Gelb ihrer Kleider unterstrichen den Honigschimmer ihrer Haut. Doch da war noch etwas, was sie veränderte, ohne dass er es benennen konnte. Sie war nicht mehr so schlank wie früher, ihr Gesicht wirkte voller. Sie schien reichlich zu essen, was durchaus ein gutes Zeichen war. Chac warf Speer, Pfeile und Bogen zu Boden und lief auf Tonina zu, die unbeweglich dastand. Dann aber ließ sie die Kalebasse mit dem Wasser fallen und stürzte sich in seine Arme. Überglücklich stöhnte er auf. Tonina fühlte sich weicher an, rundlicher, so wäre die Verwandlung vom einstmals so schlanken Inselmädchen noch im Gange. Sie weinte an seiner Schulter, klammerte sich wie eine Ertrinkende an ihn.
»Ich kann es nicht glauben … «
»Ich dachte, du … «
»Ich habe gebetet … «
»Ich habe geträumt … «
Sein Mund suchte ihren zu einem ungestümen Kuss. Sie schmeckte seine Lippen. Er sog ihren Duft ein. Tonina lag in seinen Armen. Er hielt sie fest umfangen.
Schließlich ließ er sie los, um sie anzusehen, ihren Anblick zu genießen: das unbemalte Gesicht mit den blattförmigen Augen, der markanten Nase, dem energischen Kinn und dem großen Mund, der alle seine Gedanken beherrscht hatte. »Tonina, geht es dir auch gut? Als ich erfuhr, dass eine kleine Armee unter der Führung eines Maya-Prinzen mordend und plündernd durchs Land zieht, habe ich mich sofort auf den Weg zu euch gemacht. Ich vermute, bei diesem Maya handelt es sich um Balám. Was ist passiert? Warum hat er euch verlassen?«
Beim Gedanken an Baláms schändliches Tun – wie er sie unter die Bäume gezerrt, sich auf sie geworfen hatte – schnürte sich Toninas Hals zusammen. »Wir wissen nicht«, hob sie, um Atem ringend, an. »Wir wissen nicht, warum er weggegangen ist. Als wir am Morgen nach deinem Aufbruch erwachten, waren er und seine Männer verschwunden.«
Chac presste die Lippen zusammen. »Er hatte mir versprochen zu bleiben, dieses Versprechen aber dann nicht eingehalten, weil ich mich verändert hatte, kein Maya mehr war. Wie konnte er euch schutzlos zurücklassen!«
»Haarlos ist auch fort. Wir wissen nicht, wohin.«
Er überlegte kurz, nickte dann. Haarlos, dieser liebenswerte Mensch, hatte mit seinem schlichten Gemüt nur eins im Sinn – das Ballspiel und seine Helden. »Er wird nach Mayapán zurückgekehrt sein.«
Er umfasste ihre Schultern. Als er den Kopf neigte, um sie abermals zu küssen, wehrte Tonina ihn ab. »Chac, seit du weg bist, hat sich vieles verändert.«
Er sah sie fragend an.
»Ich bin verheiratet.«
Er meinte nicht recht zu hören.
»Es musste sein«, sagte sie hastig. »Mit Liebe hat das nichts zu tun.«
Seine Hände glitten von ihren Schultern. »Was soll das heißen, ›verheiratet‹?«
»Chac«, sagte sie so behutsam wie möglich und wünschte sich weit weg, ans andere Ende der Welt. Wie sollte sie den Schmerz, den sie ihm gleich zufügen würde, selbst ertragen? »Ich musste heiraten.«
»Warum? Und wen?«
»Türkisrauch«, sagte sie und wiederholte nochmals: »Es musste sein. Mir blieb nichts anderes übrig.«
Noch immer starrte er sie an, dann begriff er. Alles hing mit Baláms Aufbruch zusammen. Tonina war ursprünglich ein Verhandlungspunkt von Türkisrauch gewesen, und der unverschämte Häuptling hatte sich Baláms Aufbruch zunutze gemacht, sein Begehren in die Tat umzusetzen. »Türkisrauch hat also gedroht, euch ebenfalls schutzlos dem Schicksal zu überlassen«, folgerte Chac wutentbrannt, »wenn du ihn nicht heiratest.«
Tonina schwieg. Was sie vorgebracht hatte, war nicht unbedingt gelogen. Sie hatte den Zapoteken-Häuptling geheiratet, weil es sein musste – wenn auch aus einem anderen Grund.
»Aber du kannst dich doch scheiden lassen und mich heiraten, Tonina. Das geht ganz einfach. Er kann es nicht verhindern. Und wenn es sein muss, fordere ich ihn zum Kampf heraus.« »Chac, ich bin schwanger.« Mehr sagte sie nicht.
Wie angewurzelt stand er da, den Blick auf sie gerichtet, zu Stein erstarrt. Ein leises Lüftchen spielte mit seinem Haar, wirbelte eine Strähne über seiner Stirn auf, bauschte seinen scharlachroten Umhang. Tonina vernahm das Summen von Bienen, das Schwirren einer Libelle. Der Schatten eines rotschwänzigen Habichts huschte über den Boden.
Chac stieß den Atem aus, den er angehalten hatte. Jetzt erkannte er den Grund für ihr verändertes Äußeres. Selbst unter der weiten Tunika und
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