Das Perlenmaedchen
an dessen Ende sich das Lager ausbreitete. Sie hätte an einer näher gelegenen Quelle Wasser holen können, aber sie wollte allein sein und nachdenken.
Ihre Mutter hatte sich über Einzelheiten ihrer Verhandlung mit dem Häuptling der Zapoteken ausgeschwiegen. Immerhin hatte Türkisrauch ein rauschendes Fest mit köstlichem Schmaus und viel Unterhaltung ausgerichtet und Tonina eingedenk seines Versprechens in der Hochzeitsnacht nicht berührt.
Zwei Monate später hatte sie in aller Form ihre Schwangerschaft verkünden können. Sie ahnte zwar, dass manch einer mutmaßte, sie habe bereits bei ihrer Hochzeit ein Kind unter dem Herzen getragen, und zwar eins von Chac. Da aber Chac als Held angesehen wurde, verzieh man Tonina, allein schon weil sie auf ehrbare Weise dafür gesorgt hatte, dass das Kind dem Gesetz nach einen Vater bekam.
Was aber würde sein, raunte man untereinander, wenn Chac zurückkehrte?
Auch Tonina wurde beim Gedanken an Chacs Rückkehr angst und bange. Unter gar keinen Umständen durfte er das Baby sehen, das keinerlei Ähnlichkeit mit Türkisrauch aufweisen würde – weder die fast schwarze Hautfarbe noch die platte Nase –, dafür aber Baláms rötliche Hautfärbung, seine große Nase und die schräg stehenden Augen. Und dann würde Chac wissen, wer in Wahrheit der Vater war.
Dazu durfte Tonina es nicht kommen lassen. Chacs tief verwurzelter Sinn für Gerechtigkeit war ihr nur allzu vertraut. Wenn er erfuhr, was Balám ihr angetan hatte, würde er seinen einstmaligen Freund bis ans Ende der Welt verfolgen und ihn dann zu einem Kampf auffordern, den er unmöglich gewinnen konnte. Während sie sich zum kühlen Wasser hinunterbeugte, um ihre Kalebasse zu füllen, überlegte sie, wie sie es am besten anstellte, Chac nie wieder zu begegnen.
»Viele Menschen, große Karawane und Soldaten«, sagte der Maisbauer und deutete zu einem östlich ins Vorgebirge verlaufenden Pfad.
Chac dankte dem Mann und eilte weiter. Endlich hatte er Tonina aufgespürt.
Der Weg, den er jetzt einschlug, führte durch ein smaragdgrünes Tal, das von Wasserfällen und hellblauen Weihern durchzogen wurde. Eigentlich war er froh, dass Balám wortbrüchig geworden war und Tonina mit ihren Leuten in der Obhut von Türkisrauch gelassen hatte. Dadurch war Chac zu einer Entscheidung gezwungen worden, die er schon vier Monate früher hätte treffen sollen, als er sich wider besseren Wissen den alten Taburegeln unterworfen und Tonina verlassen hatte, um zu erforschen, ob und inwieweit sie miteinander verwandt waren.
Mit einem unguten Gefühl war er aufgebrochen, das ungute Gefühl hatte ihn ständig begleitet, vor allem als er zwei Monate später erfuhr, dass Balám sein Versprechen nicht eingehalten hatte. Aber jetzt würde er die Dinge zurechtrücken. Verwandtschaftsverhältnis hin und her – er würde Tonina heiraten.
In dreizehn Tagen war Wintersonnenwende, was bedeutete, dass zwölf Tage zuvor das bei den Maya üblicherweise einzuhaltende Trauerjahr offiziell zu Ende gegangen war. Deshalb hatte er in einem kleinen Tempel unterwegs zu einer Göttin, die hier verehrt wurde, gebetet, hatte Weihrauch verbrannt, eine makellose Taube geopfert und Geschenke für die Priesterinnen zurückgelassen, die sich um den Schrein kümmerten. Er hatte gebetet, dass Paluma im Himmel glücklich sein möge, und seinen Schwur erneuert, ihre Mörder der Gerechtigkeit zu überantworten. Bevor er weiterzog, hatte er die Priesterinnen dafür bezahlt, dass sie in den kommenden dreizehn Tagen Weihrauch verbrannten und im Namen seiner Frau Gebete sprachen.
Und jetzt war er frei.
Als Tonina sich niederbeugte, um mit der Kalebasse Wasser aus dem Flusslauf zu schöpfen, spürte sie, wie sich das Kind in ihrem Leib bewegte. Zwiespältige Gefühle erfüllten sie – Liebe für das Kind, Hass auf seinen Vater.
Eine Hand stützend ins Kreuz gedrückt, richtete sie sich auf – und sah einen Fremden den schmalen Pfad entlang auf sich zukommen. Sie schaute genauer hin, riss unvermittelt die Augen auf, weil sie meinte, ihr Verstand treibe Schabernack mit ihr. Der Fremde sah aus wie Chac … »Guay!«, entfuhr es ihr.
Chac blieb unversehens stehen, starrte ungläubig die vermeintliche Vision an.
Nein, das war nicht das Inselmädchen Tonina, das in den vergangenen Monaten seine Gedanken und sein Herz erfüllt hatte, sondern die Nahua, in die sie sich verwandelt hatte. Ihr zu zwei Rollen eingedrehtes Haar umrahmte reizvoll ihr Gesicht und gab den langen,
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