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Das Perlenmaedchen

Das Perlenmaedchen

Titel: Das Perlenmaedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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kleine Junge und schob seine Hand in die ihre.
    »Du brauchst doch keine Angst zu haben«, kam es beschwichtigend von Tonina-H’meen. Und als der Kleine aufstand, sagten sie: »Du wirst in unserer Welt geliebt und umsorgt werden. Komm mit zu uns. Wir werden dich beschützen.«
    Er schaute sie an, aus großen, seelenvollen Augen, die allmählich eine gelbe Färbung annahmen. Der Junge wurde größer, sein Haar war jetzt schulterlang, seine Gliedmaßen streckten sich, und Tonina-H’meen erkannten, dass er sich in Tapferen Adler verwandelt hatte.
    »Du bist zurück«, sagten Tonina-H’meen voller Freude.
    Tapferer Adler streckte die Hand aus, und sie sahen die rote Blume darin liegen. »Du hast sie gefunden?«, fragten sie.
    »Beeilt euch«, sagte er. »Findet die Höhlen. Sie laufen Gefahr einzustürzen.«
    »Wo sind diese Höhlen?«
    Tapferer Adler antwortete nicht. Er durchlief eine weitere Verwandlung – dann stand eine dritte Person vor ihnen. H’meen hatte noch nie einen derart gekleideten Mann gesehen: Er trug eine rehlederne Tunika und Beinkleider, die mit Fransen und Perlen besetzt waren. Auch dass ein Mann sein Haar zu zwei langen Zöpfen flocht, war ihr neu. Für H’meen war er ein Fremder, aber Tonina erkannte in ihm Cheveyo, ihren Vater.
    »Seid ihr drei verschiedene Menschen?«, fragten Tonina-H’meen. »Oder eine Person?«
    »In uns sind alle Seelen zusammengefasst«, sagte Cheveyo. »Bist du ein Gott?«
    »Wir sind alle Götter. Aber jetzt müsst ihr euch beeilen und die Höhlen finden, damit Pahana zu uns zurückkehren kann.«
    Tonina-H’meen wollte ihn berühren, aber der Himmel verdunkelte sich, erinnerte Tonina an ihre prophetische Vision. Als H’meen Cheveyo ihre unvermittelt wieder altersfleckigen und arthritisch verkrümmten Hände entgegenstreckte, wusste sie, dass sie nicht länger mit Tonina verbunden war. »Du musst diesen Ort verlassen«, sagte sie zu Cheveyo. »Hier droht dir Gefahr. Schnell, geh fort von hier!«
    Als sie ein heftiger Schmerz durchfuhr, merkte Tonina, dass H’meen nicht länger ein Teil von ihr war. »Tonina, geh ohne mich zurück«, hörte sie H’meen flüstern. »Finde Aztlán.«
    »Ich verlasse dich nicht!«
    »Geh schon … «
    Toninas Hände ruhten noch immer in denen von Cheveyo – junge Hände, alte Hände, makellose, deformierte, verkrümmte, sich ständig verändernde Hände.
    »Ihr könnt nicht hierbleiben, Ehrwürdige Kräuterkundige«, sagte Toninas Vater. »Eure Zeit ist noch nicht gekommen. Ihr müsst weiterhin im Dienste der Götter wirken. Geht mit Tonina zurück.«
    Ein weiterer heftiger Schmerz. Tonina riss die Augen auf. Die Wehen setzten ein. Als sie aufschrie, sank H’meen zu Boden. Einauge eilte auf sie zu.
    Ixchel sah, dass das Kind kam.
    »Was … «, keuchte Tonina, »was ist mit H’meen?«
    Einauge wischte H’meen behutsam ein paar weiße Strähnen aus dem Gesicht und lächelte sie an. »Ihr seid zurück«, stammelte er. »Meine über alles Geehrte, Ihr seid zu mir zurückgekommen.« »Du musst pressen«, drängte Ixchel. »Bevor es sich dein Kind anders überlegt.«
    H’meen blickte Einauge an. »Es geht mir gut«, hauchte sie. »Einauge, ich fühlte mich wieder jung und stark. Ich habe Cheveyo gesehen, die Höhlen und auch die rote Blume.« »Pressen!«
    Noch eine weitere Wehe, und das Baby erblickte das Licht der Welt.
    Erleichtert und mit Freudentränen in den Augen trennte Ixchel mit einer Klinge aus Obsidian die Nabelschnur durch und musterte dann das quäkende kleine Wesen. Zehn Finger, zehn Zehen. Sie bettete den Säugling in Toninas Arme und betete leise zu Quetzalcoatl, auf dass er dieses neue Leben behüte und beschütze.
    Zärtlich drückte Tonina die Lippen auf das weiche Köpfchen. Ein kleiner Junge. Ihr Sohn. Nicht der Abkömmling eines Feindes, nicht die Frucht einer Vergewaltigung, sondern ihr Kind, mit ihrem Blut und ihrer Liebe genährt. Nichts von Balám war in diesem entzückenden kleinen Wesen, nichts Böses, kein Makel. Sie würde weder seine Stirn plattdrücken noch seine Augen in eine Schrägstellung zwingen noch seinen Nasensattel mit Lehm unterfüttern. Er würde so aufwachsen, wie ihn die Natur geschaffen hatte, als stolzer und gutaussehender Mexica. Sie hob ihn an ihre Lippen und raunte ihm seinen Namen ins Ohr: »Tenoch.«

61
    Frühjahr, durchzuckte es Chac, während er voller Ungeduld darauf wartete, dass die Wachposten ihr Palaver beendeten. Tonina hatte gesagt, ihr Kind würde im Frühjahr zur Welt

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