Das Perlenmaedchen
sterben!«, gab sie zurück.
»Ich bitte Euch inständig. Rettet Tonina.«
»Es würde mich umbringen«, wiederholte sie, um dann um einiges sanfter hinzuzufügen: »Einauge, so ist es uns nun mal bestimmt. Eine von uns wird sterben.«
Sein missgebildeter Körper wurde von bitterem Schluchzen gebeutelt. Einauge der Zyniker, für den Frauen einstmals flüchtiges Vergnügen bedeutet hatten, liebte sowohl Tonina als auch H’meen und konnte den Gedanken nicht ertragen, eine von ihnen zu verlieren. »Bitte, lasst sie nicht sterben!«
»Demnach ziehst du Tonina mir vor?«, meinte sie gekränkt. »Nein!«
Sie entfernte sich in Richtung ihres kleinen Lagers inmitten der Kiefern.
Einauge wischte sich über die Augen und ging zurück zur Hütte. Dort kniete er sich neben Tonina, nahm den kleinen Beutel ab, in dem er Knochenreste seines Urgroßvaters aufbewahrte, und legte ihn ihr auf den Leib. Dann hob er an, so inbrünstig wie nie zuvor zu Lokono zu beten, wenngleich fraglich war, ob der Geist des Alls einem ausgemachten Schlawiner wie ihm überhaupt Gehör schenken würde.
»Einauge.« Ixchel fasste ihn an der Schulter. »Du musst jemanden finden, der uns hilft! Wir können meine Tochter doch nicht einfach sterben lassen!«
Und dann stand H’meen samt ihrer Medizinausrüstung erneut an der Tür.
»Was ich zu dir gesagt habe, tut mir leid«, sagte sie zu Einauge. »Ich weiß doch, dass du Tonina nicht mir vorziehst.«
Sie trat an Toninas Lager, entnahm ihrer Arzneitasche einen kleinen Kürbis, entfernte den Gummipfropfen, mit dem er versiegelt war. Dann schob sie den Arm unter Toninas Kopf und ermunterte sie zum Trinken.
»Was ist das?«, fragte Ixchel.
»Frauenminze. Es regt die Wehentätigkeit an.«
Als Nächstes öffnete sie einen Beutel aus Rehleder. »Ich werde deine Gebete brauchen, Einauge.« Und an Ixchel gewandt: »Und Eure Hilfe auch. Wenn Tonina und ich uns in der spirituellen Welt aufhalten, werden wir auf die Unterstützung Eurer Götter angewiesen sein.« Und wieder zu Einauge: »Bring mir bitte eine Schale Wasser.«
Hastig rannte Einauge aus der Hütte und war ebenso schnell wieder zurück. Als H’meen daranging, ein zu Pulver zerriebenes Kraut in das Wasser rieseln zu lassen, gebot Ixchel ihr Einhalt. »Nehmt dies hier«, sagte sie und reichte H’meen den durchsichtigen Becher, den sie aus Toninas Reisesack geholt hatte. »Das dürfte die Wirkung Eurer Medizin nochmals verstärken.«
Während sie den zerriebenen peyotl in das Wasser einrührte, sang H’meen eine uralte Zauberformel der Maya, mit der sie die Geister der Anderen Welt anrief, die Pforten zu öffnen und Besuchern den Zutritt zu gestatten. Ixchel entzündete Weihrauch und murmelte zusammen mit Einauge Gebete, jeder in seiner Muttersprache. Dann stützte H’meen erneut Toninas Kopf und hielt ihr den Becher an die Lippen. Nach einem Schluck des bitteren Gebräus nahm auch H’meen einen Schluck. Eingehüllt in Weihrauchschwaden und begleitet vom monotonen Murmeln der Gebete, wechselte der Becher zwischen H’meen und Tonina hin und her, bis kein Tropfen peyotl mehr darin war.
Als H’meen Einauge einen Blick zuwarf, las sie in seinen Augen, dass seiner Überzeugung nach eine von ihnen von dieser Reise nicht zurückkehren würde.
Die Hütte schien sich zu verändern, die Graswände verschwammen und lösten sich schließlich ganz auf. Erst verschwanden Einauge und Ixchel, dann der Wald und die Berge, bis H’meen sich schließlich allein in einer öden Gegend befand, mit kümmerlichem Grün auf sandigem Boden und links und rechts versteinerten Lavaströmen. Ob sich dahinter ein Gebirge erhob oder das Meer erstreckte, war nicht auszumachen, wohl aber, dass sich am Himmel dunkle Wolken ballten.
H’meen sah einen kleinen Jungen im Sand sitzen. Er weinte. »Warum weinst du denn?«, fragte sie ihn, und als er aufschaute, merkte H’meen, dass sie von sehr viel höher als gewohnt auf ihn hinunterschaute. So als stünde sie auf einem Schemel. Als sie dann die Hand nach dem Jungen ausstreckte, war das nicht ihre mit Altersflecken überzogene und von Arthritis deformierte Hand, sondern eine junge, makellose Hand von honiggoldener Hautfarbe. Daraus schloss sie, dass sie gleichzeitig auch Tonina war. In ihrer gemeinsamen Vision hatten sie sich vereinigt, waren eins geworden. Wie wunderbar, Toninas jugendliche Kraft und Vitalität zu spüren!
»Warum weinst du denn?«, fragten Tonina-H’meen erneut.
»Ich habe Angst«, antwortete der
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