Das Perlenmaedchen
nur darum, was er mir angetan hat. Du bist hinter Balám her, weil du ihn im Verdacht hast, dass er die Stämme im Tal von Anahuac unterwerfen will, um sie unter Maya-Gesetz zu zwingen und sich selbst zum obersten Herrscher aufzuschwingen. Und das kannst du als stolzer Mexica, der du jetzt bist, nicht zulassen.«
Chac starrte sie an, denn sie hatte die Situation klar erkannt. »Ich werde ihn daran hindern«, knurrte er.
»Was bringt es ein, ihn daran zu hindern, wenn sich für unser Volk nichts ändert? Wenn sie weiterhin umherziehen, immer wieder von anderen Stämmen vertrieben werden? Oder vielleicht der nächste Balám auftaucht? Du musst dich dieser Sache stellen, Chac.«
»Ich werde mich stellen«, gab er grimmig zurück. »Verlass dich drauf. Aber ein Anführer bin ich nicht, Tonina.«
»Seit du von Mayapán fort bist, bist du einer. Seither bist du der Anführer all dieser Menschen.«
»Sie sind mir aus freien Stücken gefolgt. Ich habe sie nicht dazu gezwungen.«
»Genau dies macht einen guten Anführer aus! Nicht der Mann, der andere zwingt, ihm zu folgen, sondern der, dem man sich aus freien Stücken anschließt.«
Männer und Frauen waren erwacht und bestaunten das Schmetterlingswunder auf der jetzt sonnenüberfluteten Lichtung. Ohne noch etwas zu sagen, gab Chac Tonina einen Kuss und machte sich auf, Gruppen für die Jagd zusammenzustellen.
Als sich die Luft erwärmte, ließen sich die gold- und orangefarbenen Schmetterlinge auf dem feuchten Waldboden nieder, bedeckten ihn bis zum Nachmittag wie einen glänzenden Teppich. Bemüht, nicht auf sie zu treten, gingen alle ihren täglichen Verrichtungen nach, auch Chac und Tonina, allein schon, weil sie nicht ständig an sie Last, die ihnen aufgebürdet worden war, denken wollten. Am liebsten wären sie zusammen fortgelaufen und hätten sich einen Ort gesucht, wo sie in Sicherheit und Frieden leben konnten. Aber sie hatten Verpflichtungen – Tonina musste die rote Blume und die Höhlen von Aztlán finden und Chac musste verhindern, dass Balám ihr Volk abschlachtete.
Drei Tage später brachen sie auf – mit neuen Kräften, da sie ausreichend zu essen hatten und nun beschützt von starken jungen Männern, die darum eiferten, Chac, ihrem Helden, Ehre zu machen.
Als sie die Stelle erreichten, an der der Weg nach Westen abzweigte, kam ein Späher angerannt und informierte Chac, dass sich Baláms achttausend Mann starke Armee in Bewegung gesetzt hatte.
»Wohin?«
»Geradewegs nach Amecameca.«
68
Als die über tausendköpfige Pilgerschar besorgt und in sich gekehrt das Tal von Anahuac vom westlichen Ende her betrat, blieb sie angesichts der schneebedeckten Berge auf der gegenüberliegenden Seite wie gebannt stehen.
Alle waren von Hoffnung erfüllt – die Kranken und die Lahmen, die Alten, die kinderlosen Frauen, die ungeliebten Männer. War dieses Heilung von allen Leiden versprechende wundersame Aztlán tatsächlich in Reichweite? Ich werde wieder jung sein, und dann wird Einauge mich als Frau lieben, malte sich H’meen in ihrem Tragekorb, Poki auf dem Schoß, aus.
Als sie zum Fuß der Hügel gelangten und sich vor ihnen das Tal mit Mais- und Baumwollfeldern ausbreitete, vermeldeten Späher, dass Baláms Armee weiterhin auf Amecameca zuhielt.
Die Pilger umrundeten den flachen See, neugierig beäugt von Bauern, die ihre Feldarbeit unterbrachen. Kaufleute kamen aus ihren Häusern und Fischer richteten sich über ihren Netzen auf, um sie verwundert anzusehen. Bauersfrauen eilten mit Kalebassen und Schläuchen frischen Wassers auf die Vorüberziehenden zu – Pilgern gegenüber gastfreundlich zu sein brachte Glück –, und als ein kurzes Erdbeben den Boden erzittern ließ, sodass Hütten und Häuser und Bäume schwankten, berichteten die Einheimischen den Pilgern, dass dies seit Tagen so gehe und alles darauf hindeute, dass der Popocatépetl in absehbarer Zeit ausbrechen werde. War nicht die mächtige Wolke, die vom Gipfel des Vulkans aufstieg und vom Wind zu einem riesigen Pilz aufgebläht wurde, Beweis genug?
Ixchels freudige Erregung schlug um in Angst und Bange. Sollte sich etwa hier ereignen, was Tonina in ihrer prophetischen Vision geschaut hatte? Sie dachte an das Bild von den überall verstreuten Leichen. War sie dabei, diese unschuldigen Menschen in den Tod zu führen? Und wo war Cheveyo?
Bei Sonnenuntergang schlugen sie ihr Lager in Xochimilco auf, einer Siedlung am Südzipfel des Sees, wo es schwimmende Inseln aus Blumen und
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