Das Perlenmaedchen
beigebracht hatte. Einauge wurde sich bewusst, dass für jeden einmal die Zeit kam, da selbst der durchtriebenste Kerl sich für eine gerechte Sache einzusetzen hatte.
Außerdem, so sagte er sich, war er als Zwerg im Vorteil. Ich werde mich unterhalb von Baláms Blickfeld an ihn heranschleichen, indem ich seinen eigenen Schild als Blende nutze, und ihm dann mein Messer von unten in die Eingeweide rammen, es immer wieder herumdrehen …
Ixchel schaute zu den Sternen hinauf, dann zu den dichten Bäumen. Ob sich Cheveyo irgendwo in dieser Gegend aufhielt? Unterwegs hatte sie sich bei jeder Gelegenheit nach einem Schamanen namens Cheveyo erkundigt, hatte gefragt, ob man wisse, wo er sich aufhalte. Vielleicht befand er sich auf der anderen Seite des Sees. Oder war inzwischen bei den Höhlen?
Cheveyo, mein Geliebter. Ich bin hier. Warte auf mich …
Nachdem Chac sein Gebet zu Ende gebracht hatte, erhob er sich und ging auf das Lager seiner Krieger zu. Bestimmt schliefen sie noch nicht, warteten auf ermutigende Worte ihres Anführers.
Was sollte er ihnen sagen? Wir sind vierhundertsechsundzwanzig gegen achttausend.
Es überrieselte ihn heiß und kalt vor Zorn und Qual. Diese braven Männer würden sicherlich morgen sterben. Und doch gab es kein Zurück. Er musste sich der entscheidenden Auseinandersetzung stellen. Es würde zu einem Blutbad kommen.
Wie ungerecht, dachte er, dass morgen Unschuldige ihr Leben lassen sollen. Wo der Kampf doch ausschließlich sein eigener war. Es ging nicht um Stammesehre oder Gebietsansprüche. Es war der Kampf zwischen zwei Männern, die eine alte Rechnung zu begleichen hatten.
»Was soll ich tun?«, flüsterte er und schaute zum Himmel empor.
Unvermittelt besann er sich auf den kleinen Beutel, den er um den Hals trug. Er enthielt Palumas Haarlocke, eine blaue Feder sowie die kleine Statue von Kukulcan. Die Statue holte er heraus und umklammerte sie. Er schloss die Augen und betete zum Gott seiner Frau, dem Einen, der wiederkommen sollte. Während er so betete, fiel ihm ein, dass Kukulcan ja der Maya-Name für Quetzalcoatl war, und da sich Chac im Tal von Anahuac befand, unter Menschen, die Nahuatl sprachen, hielt er es für angemessen, den Gott mit Quetzalcoatl anzureden und sich in dessen Sprache an ihn zu wenden.
Und so betete Chac zu einem Gott, den er kaum kannte. Er schickte seine Worte hinauf zu den Gestirnen, wo die Göttin des Mondes in strahlendem Glanz ihre Bahn zog.
Er wartete auf Antwort.
Und Quetzalcoatl sprach.
69
Der Morgen dämmerte herauf. Beißender Schwefelgeruch erfüllte die Luft.
Obwohl Chac kaum geschlafen hatte, fühlte er sich frisch und voller Tatendrang. Er wusste, dass dies sein Tag war, dass alles, was vorher geschehen war, zur Vorbereitung auf diesen Tag gedient hatte. Wie er enden würde, lag in der Hand der Götter.
Schweigend sah Tonina mit an, wie er sich in dem bleichen Licht, das durch die Bäume fiel, zum Kampf bereit machte. Er zog sich einen dicken schwarzen Farbstrich quer übers Gesicht, von Ohr zu Ohr, über Nase und Wangen, und während er dies tat, betete er leise. Er schlang um den Knoten oben auf dem Kopf, der ihn als Krieger auswies, ein Band aus Toninas Haar, betete erneut. Und als er seinen Umhang über einer Schulter knotete, rief er den Schutz der Göttin des Mondes und des Gottes Quetzalcoatl an.
Als er fertig war, in einer Hand den Speer, in der anderen den Knüppel, blickte er Tonina an, die, seit sie aufgewacht war, noch nichts gesagt hatte. »Vertraust du mir?«, fragte er. »Ja.«
»Dann glaube mir, wenn ich sage, dass ich nicht vorhabe, heute zu sterben. Ich kann nicht, denn sterben hieße versagen, und du weißt ja, wie ich dazu stehe.« Er lächelte in leisem Scherz. »Sei gewiss«, sagte er dann wieder ernst, »weder dir noch unserem Volk wird heute Unheil zuteil.«
»Woher willst du das wissen? Baláms Armee ist so übermächtig, seine Männer sind ausgebildet und schwer bewaffnet.«
»Dafür hat Balám eine entscheidende Schwäche. Und die wird meine Waffe sein. Mach dir keine Sorgen. Wir werden siegen.« »Wie kannst du dir so sicher sein?«
»Ich weiß es, geliebte Tonina, weil ich letzte Nacht Gott Quetzalcoatl gebeten habe, mich zu leiten, und er hat zu mir gesprochen. So wie er einst zu dir sprach. Er hat mich an Dinge erinnert, um die ich bereits wusste, die ich aber vergessen hatte.«
Er küsste sie ein letztes Mal und trat mit seinen vierhundertsechsundzwanzig Mann aus dem Schutz des Waldes, um sich
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