Das Perlenmaedchen
Himmelsrichtungen stürzten. Man hätte meinen können, das Ende der Welt sei gekommen.
Noch war der neue Tag nicht angebrochen, aber es dämmerte bereits. Sie schaute auf Chac, der seelenruhig neben ihr schlief.
Chac, durch den sie eine Liebe erfahren hatte, die sie sich nicht hatte vorstellen können. Wenn sie bislang gemeint hatte, in ihn verliebt zu sein, war durch die körperliche Vereinigung die Liebe, die sie für ihn empfand, so groß, so allumfassend geworden, dass sie sich fragte, ob das Herz nicht Gefahr lief, davon überzuquellen.
Nie wieder wollte sie von ihm getrennt werden.
Und doch schien genau dies der Wille der Götter zu sein. Tonina vermochte Chac nicht zu überreden, von seinem Vorhaben, Balám aufzuspüren, abzulassen, nicht zu überzeugen, dass er für Größeres bestimmt war.
Sie schloss die Augen, betete inbrünstig: Quetzalcoatl, bitte gib mir ein Zeichen …
Sie lauschte in die Stille, sah bleiches Licht durch die Äste ihrer Unterkunft dringen, und dann …
Ein merkwürdiges Geräusch.
Sie hüllte sich in Chacs Umhang und spähte hinaus. Noch lag der Wald im Dunkeln, nur in den Wipfeln zeichnete sich die heraufziehende Dämmerung ab. Sie sog den schwelenden Geruch kalter Lagerfeuer und warmer Asche ein, vernahm die typischen Geräusche des neuen Morgens – das vertraute Kläffen von Poki, der vermutlich einer Eidechse nachjagte, die dem Kochtopf entronnen war, Paarungsgestöhn, ein weinendes Kind.
Aber da war noch etwas.
Tonina kroch aus der Hütte, richtete sich auf, blinzelte, um ihre Augen an das Halbdunkel zu gewöhnen. Sie konzentrierte sich auf das eigentümliche Geräusch – wie ein Flirren hörte es sich an, wie das Vibrieren einer Schnur, an der man gezupft hat, oder wie ein leises Wehklagen. Es schien aus der Nähe und gleichzeitig aus der Ferne zu kommen, so als wäre sie umhüllt von diesem Klang.
Als bleiches Licht in den Wald kroch und dunkle Umrisse erkennbar werden ließ, riss sie die Augen auf. Und als ihr allmählich klar wurde, was sie sah, verwandelte sich ihr Staunen in Bewunderung, dann in überschäumende Freude.
Überall Schmetterlinge! Millionen Schmetterlinge, golden und orangefarbene, die da herumflatterten. Auf allen Ästen ließen sie sich nieder, auf allen Tannenzweigen, die sich infolge des geballten Schmetterlingsgewichts derart vieler durchbogen.
Sie hörte ein Knacken und sah einen mit Schmetterlingen über und über beladenen dünnen Ast brechen und zu Boden fallen.
Mit dem perlfarbenen Licht des jungen Tages erstrahlte das Gold der Schmetterlinge auf den zarten, schwarz gezeichneten Flügeln – dicht an dicht saßen sie auf jedem Baum und Busch, auf jedem Grashalm, jeder Hütte, jedem Dach, jedem Unterschlupf, bedeckten alles wie goldene Schneeflocken. Trotz Chacs Umhang zitterte Tonina und hielt den Atem an, und ganz plötzlich, so als hätte man ihr den Schädel geöffnet, als flößten ihr die Götter ihre Weisheit ein, traf sie eine neue Erkenntnis.
Sie sank an den Baumstamm, der ihre Unterkunft abstützte. Scharen von Schmetterlingen flatterten auf. Sie vermochte nicht zu atmen, als göttliche Weisheit wie flüssiges Sonnenlicht in sie einströmte, ein leuchtender Wasserfall blendender Ekstase. Und dann sah sie, wie die dicht an dicht auf den Ästen sitzenden Schmetterlinge sich in ganz andere Wesen verwandelten, größer wurden, sich veränderten, Gestalt annahmen. Tonina schnappte nach Luft, merkte, wie Schweiß aus ihren Poren brach.
Die Schmetterlinge hatten sich in die Menschen im Tal von Anahuac verwandelt.
Tonina sah sie so deutlich, als schaute sie vom Gipfel des Popocatépetl hinab auf die Dörfer und Städte, die Bauernhöfe und Siedlungen entlang des Ufers des Texcoco-Sees. Die Schmetterlinge waren zu den verstreuten Stämmen und Clans von Aztlán geworden – und sie alle lebten vereint unter einem Herrscher.
Derart beschwörend und eindringlich war die Vision, dass Tonina zu weinen begann. Es waren Tränen der Freude, sah sie doch die Menschen ihre Felder bearbeiten, Waren austauschen, Nachbarn besuchen, die Götter ehren und ihren Anführer preisen – Chac. Sie sah keine Untaten mehr, keine Überfälle und Kriege, die Menschen lebten zusammen wie die Schmetterlinge, in dieser wunderbaren Harmonie, wie es vor langer Zeit Quetzalcoatl-Pahana versprochen hatte, wie es im Buch der tausend Geheimnisse prophezeit und von einer legendären Ahnin namens Hoshi’tiwa, die in einem Land mit Tafelbergen und Canyons gelebt
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