Das Pestzeichen
eine dicke Scheibe ab. Diese teilte sie in der Mitte und reichte den beiden Buben jeweils eine Hälfte davon. Für sich selbst säbelte sie eine dünne Scheibe Käse ab. Danach verteilte sie die Äpfel. Gierig biss der Kleine hinein, sodass der Saft des Obstes an seinem Kinn herablief.
»Schmeckt es dir?«, lächelte Susanna.
Als der Junge nickte, fragte sie: »Du sprichst wohl nicht mit jedem?«
Kaum hatte sie das ausgesprochen, ließ der Große die Hand mit dem angebissenen Käse sinken. »Mein Bruder ist verstummt«, erklärte er leise, sodass nur sie ihn verstehen konnte.
»Oh!«, antwortete Susanna betreten und blickte den Jungen mitfühlend an. »Was heißt verstummt?«, wollte sie wissen.
Doch der Ältere schüttelte fast unmerklich den Kopf und schaute zu seinem Bruder. Der hatte das Gespräch nicht mitbekommen und kaute zufrieden seine Wurst. Susanna verstand und aß schweigend weiter. Um die Stille zu durchbrechen, sagte sie: »Ich heiße Susanna. Und du?«
»Ich bin Paul!«
Wieder herrschte Schweigen zwischen ihnen. Nur der Regen war zu hören. Ludwig zupfte am Beinkleid des Bruders und machte eine Geste, die auch Susanna verstand.
»Er hat Durst?«, fragte sie vorsichtig.
Ludwig nickte. Susanna kramte in ihrem Beutel einen Becher hervor, den sie in den Regen hielt, bis sich Wasser darin angesammelt hatte. Dann reichte sie ihn dem Jungen, der ihn ganz austrank.
»Du bist sehr nett!«, sagte Paul und blickte sie schüchtern an.
Susanna zuckte mit den Schultern. »Ich bin so erzogen worden.« Sie stockte kurz, denn sie spürte Tränen aufsteigen. »Meine Mutter sagte immer, dass wir uns so verhalten sollten, wie wir selbst behandelt werden möchten.«
Pauls Blick wurde starr.
»Was hast du?«, fragte Susanna leise. Er schüttelte erneut abwehrend den Kopf und blickte zu Ludwig, der ihn aus großen Augen ansah. Susanna griff nach ihrem Beutel. »Möchtest du noch einen Apfel?«, lenkte sie den Jungen ab und zog das Stück Obst aus dem Sack. Ludwig nickte freudig und griff danach. Als er gähnte, sagte Paul fürsorglich: »Leg dich hin, denn wir werden vorerst nicht weitermarschieren. Wir müssen warten, bis der Regen aufhört.«
Gähnend streckte sich der Junge im Stroh aus und schlief sofort ein.
Susanna setzte sich rechts neben dem Eingang, Paul links davon nieder. Beide sahen schweigend dem Regen zu, der wie Bindfäden vom Himmel fiel.
»Erst regnet es wochenlang gar nicht, und dann scheint es nicht mehr aufhören zu wollen«, schimpfte Susanna und zeigte nach oben, wo dichte Wolken hingen.
»Woher kommst du, und wohin willst du?«, fragte Paul, ohne sie anzusehen.
»Ich komme aus Heusweiler und will zu meiner Muhme nach Brotdorf. Und ihr beiden?«
Paul schluckte schwer. »Wir kommen aus Völklingen und wollen zu unserer Base nach Eppelborn. Sie arbeitet im Bachmichel-Haus als Magd, und ich hoffe, dass ich dort die Schweine hüten darf, damit Ludwig und ich dafür zu essen und ein Dach über dem Kopf bekommen.«
Die Traurigkeit in Pauls Stimme ließ Susanna aufhorchen. »Wo sind eure Eltern?« Kaum hatte sie die Frage laut ausgesprochen, breitete sich ein ungutes Gefühl in ihrem Bauch aus.
»Sie sind tot«, murmelte Paul und schaute mit von Tränen verschleiertem Blick zu seinem kleinen Bruder, der tief und fest schlief. »Von Plünderern ermordet«, fügte er hinzu und rieb sich mit dem Ärmel seines Kittels über die Augen. »Ludwig und ich konnten uns vor ihnen verstecken, doch wir mussten alles mit ansehen. Seitdem ist mein kleiner Bruder verstummt.«
»Wie furchtbar«, wisperte Susanna und wagte kaum aufzuschauen. Sie schämte sich, weil sie nach dem Mord an ihrer Familie geglaubt hatte, dass niemand so litt wie sie. Doch hier gab es Kinder, deren Eltern ebenfalls durch rohe Gewalt gestorben waren. Plötzlich regte sich in ihr ein Verdacht. Der Name Jeremias spukte erneut durch ihre Gedanken. Ich bin Jeremias gegenüber ungerecht , dachte sie. Schließlich weiß ich nicht, ob er tatsächlich etwas mit dem Mord an meiner Familie zu tun hat. Immerhin hatte ihr Vater ihm vertraut …
Aber du nicht , sagte eine Stimme in ihr.
»Kennst du die Mörder? Hast du sie gesehen?«, fragte Susanna vorsichtig.
Paul schüttelte den Kopf. »Ich vermute, dass die Bande Geld gesucht hat.«
Erschrocken hob Susanna den Blick. »Wie kommst du darauf?«
Paul zuckte mit den Schultern. »Ich konnte die Worte nicht verstehen, denn ihre Sprache klang weder wie ein Dialekt aus unserer Gegend, noch
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