Das Pestzeichen
Schöne Verwandtschaft hast du«, brauste er auf und blickte seine Frau bitterböse an.
Susanna hätte ihrem Oheim nur zu gerne widersprochen, doch sie schwieg. Ihr Blick suchte den der Tante, und als diese sie anschaute, flüsterte sie: »Mutter, Vater und meine Geschwister sind ermordet worden. Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll.«
Agnes’ hageres Gesicht wurde leichenblass, und ihre Lippen zitterten. Voller Entsetzen blickte sie ihren Mann an, der mitleidlos zischte: »Soweit kommt es noch, dass wir ein Maul mehr stopfen!«
Kapitel 10
Urs saß aufgeregt vor seinem Oheim auf dem Stuhl und sah ihn erwartungsvoll an. Der Onkel hatte ihn am Morgen in seine Stube bestellt und dabei geheimnisvoll geklungen.
Bendicht griff hinter sich und nahm ein Buch vom Tisch, das er seinem Neffen auf die Knie legte. Mit zittrigen Händen umfasste Urs das Werk und schlug den Deckel auf. Als er den Titel las, schaute er ungläubig zu seinem Onkel auf.
Bendicht lachte leise und sagte: »Das Buch gehört ab heute dir.«
Urs’ Blick schwenkte von den gebundenen Schriften zu seinem Oheim. »Aber …«, stotterte er.
»Nichts ›aber‹! Ich weiß, dass das Buch des Paracelsus bei dir in guten Händen ist. Du hast genug von mir gelernt, sodass es nun an der Zeit ist, dein Wissen zu vertiefen. Finde deinen eigenen Weg, mein Junge.«
»Was ist mit deiner Forschungsarbeit? Wie willst du jemals ein Mittel gegen die Pest finden, wenn du dieses Buch hergibst?«
»Glaube mir, Urs, ich habe die Seiten des Paracelsus so oft gelesen, dass ich sie auswendig rezitieren kann. Außerdem …« Bendicht stockte, damit Urs ihn anblickte. Angespannt schaute der Bursche zu ihm hoch. Als er jedoch den schelmischen Gesichtsausdruck des Oheims sah, runzelte er die Stirn.
»Warum sprichst du nicht weiter?«, fragte Urs und wusste im selben Augenblick die Antwort. Voller Freude riss er die Augen auf und rief: »Du kommst mit nach Trier!«
Bendicht fuhr ihm laut lachend über das rostfarbene Haar und fragte: »Wie hast du das erraten?«
»Gar nicht«, erklärte Urs und strahlte den Oheim mit seinen bernsteinfarbenen Augen an. »Ich habe laut ausgesprochen, was ich mir gewünscht habe.«
Bendicht zog den anderen Stuhl heran und setzte sich seinem Neffen gegenüber. »Ich werde nicht sofort mit euch kommen können. Damit dein Vater rechtzeitig beim Erzbischof Karl Kaspar von der Leyen sein kann, habe ich ihm versprochen, mich um die Verpachtung des Hofes zu kümmern. Auch muss ich einen Mieter für mein eigenes Heim suchen.«
»Wie lange wird das dauern?«, fragte Urs und rutschte auf seinem Stuhl hin und her.
»Das kann ich dir nicht sagen, Neffe, denn die Zeiten sind nicht gut. Kaum jemand hat Interesse, Haus oder Hof zu pachten. Viele unserer Landsleute werden ebenso wie dein Vater mit großen Versprechen ins Deutsche Reich gelockt.«
»Dieses verdammte …«, schimpfte Urs, doch Bendicht bremste seinen jugendlichen Unmut.
»Versündige dich nicht! Das deutsche Volk hat sehr unter dem langen Krieg gelitten. Ganze Landstriche wie die Kurpfalz sind verwaist, weil die Menschen im Krieg gestorben sind. Fruchtbare Äcker werden nicht mehr bestellt und liegen brach. Du weißt, Urs, dass die Bergbauern in unserem Land ein karges Auskommen haben. Wenn ihnen die Möglichkeit geboten wird, besseren Bodenbesitz zu erhalten, ja, ihn sogar geschenkt bekommen, warum sollten sie da nein sagen?«
Urs’ Gesichtsausdruck wurde trotzig, sodass sich Bendichts Miene verdunkelte. »Du siehst aus wie ein bockiges Kind. Das passt nicht zu einem zukünftigen Heiler. Ich erwarte von dir großmütiges Denken und Weitblick, keine Verbohrtheit.«
Urs setzte sich auf seinem Stuhl kerzengerade auf und versuchte, erwachsen auszusehen.
Bendicht nickte zufrieden und sagte: »Ich hoffe, dass ich euch in zwei Wochen nachfolgen kann.«
–·–
Das Pferd hatte Mühe, das Fuhrwerk mit den fünf Menschen zu ziehen. Auf der Ladefläche des Wagens befanden sich außerdem einige schwere Möbelstücke und etliche große Haushaltsgüter. Nachdem das Pferd seinen Trott gefunden hatte, zog es das Gefährt gleichmäßig und langsam über den holprigen Weg.
Die dreijährige Vreni und der achtjährige Leonhard saßen neben ihrer Mutter und hinter ihrem großen Bruder Urs, der neben dem Vater auf dem Kutschbock hockte. Die beiden Kinder lachten und scherzten, denn für sie war die Reise ein Abenteuer.
Bendicht stand am Wegesrand und verabschiedete seine Familie. Als das Fuhrwerk
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