Das Pestzeichen
Werke nicht fürchten müssen.
»Erzähl weiter«, riss Peter seinen Vater aus den Gedanken.
Schiffer lachte über die Wissbegierde seines Sohnes erfreut auf und erklärte: »Nicht immer ist Salzgewinnung so einfach, wie du denkst, mein Sohn. Die Dürre, die in den letzten zwei Monaten geherrscht hat, führte dazu, dass nur geringe Mengen salzhaltigen Wassers in die Brunnen geflossen sind. Der Salzertrag daraus war so gering, dass der Handel keinen Gewinn abwarf.« Schiffer blickte nachdenklich ins Tal und beschrieb seinem Sohn ein anderes Übel: »Regnet es aber zu stark – so stark wie im letzten Jahr –, verringert sich der Salzgehalt in den Soleschüttungen, wie wir die Menge des salzhaltigen Wassers nennen, denn das Wasser wird verdünnt. Dann arbeiten wir ebenfalls mit großen Verlusten. Peter, kannst du erkennen, mit welchen Schwierigkeiten wir zu kämpfen haben? Im Augenblick müssen wir sparsam mit dem Brennholz umgehen, denn weil der Handel durch die Dürre zum Erliegen kam, ist das Geld knapp geworden.«
Der entsetzte Blick seines Sohnes zeigte Schiffer, dass er mit seiner Ehrlichkeit zu weit gegangen war. Er ärgerte sich, dass er sich ihm anvertraut hatte, und klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. »Du musst dir keine Gedanken machen, mein Sohn. Dein Vater hat alles fest im Griff und weiß eine Lösung.«
Der Junge ergriff seine Hand und sagte: »Sei nicht bekümmert, Vater. Dieser Regen ist ein wahrer Segen und wird dafür sorgen, dass der Sulzbach genügend Wasser führt, sodass du reichlich Salz abschöpfen kannst.«
Schiffer strich sich das Regenwasser aus dem Gesicht und lächelte seinen Sohn an. Hand in Hand ging er mit ihm über den aufgeweichten Boden zurück zur Saline.
–·–
Jeremias war auf dem Weg nach Heusweiler, als er in der Nähe von Riegelsberg eine Prozession erblickte. Er hielt sein Pferd an, stieg ab und stellte sich an den Wegesrand. Seine Hände, in denen die Zügel lagen, faltete er zum Gebet und blickte den zahlreichen Menschen entgegen, die des Weges kamen.
Ein Bursche, der ein großes Holzkreuz trug, führte den Zug an. Hinter ihm schritt der Pastor, der mit der einen Hand einen Topf Räucherwerk in die Höhe hielt, während er mit der anderen den Rauch in alle Richtungen wedelte. Dabei rief er mit monotoner Stimme den Pestheiligen Sankt Rochus zu Hilfe. Auch Jeremias betete leise zu dem Heiligen, denn die Furcht, an der Pestilenz zu erkranken, beherrschte sein Gemüt jeden Tag aufs Neue.
Die Gesichter seiner an der Pest verstorbenen Eltern und Geschwister tauchten in seinen Gedanken auf, und die Erinnerungen kamen wie Keulenschläge zurück. Unfähig, sich dagegen zu wehren, schloss er für einige Atemzüge die Augen, doch die Bilder blieben.
Jeremias war zwölf Jahre alt gewesen, als er in seinem Heimatdorf Sankt Johann mitansehen musste, wie seine Familienmitglieder bei lebendigem Leib verfaulten. Eltern und Geschwister waren an der Pest erkrankt, und nur Jeremias schien von der Seuche verschont zu bleiben. Bereits am ersten Tag der Erkrankung hatte starkes Fieber die Kranken gequält, sodass deren Haut zu glühen schien. Am zweiten Tag ging der Atem des Vaters rasselnd, und das Luftholen bereitete ihm starke Schmerzen. Als ob ein Feuer in seiner Brust loderte, hatte er kraftlos gejammert.
Die Körper seiner Mutter, seiner fünfjährigen Schwester und seines zehnjährigen Bruders waren mit dunklen Beulen übersät. Jeremias ekelte sich vor seinen Angehörigen, die wimmernd dahinsiechten. Als sein Vater mit rasselndem Atem nach Wasser stöhnte, hatte der Knabe ihm mit einem langen Stock den Becher zugeschoben. Er wollte nicht, dass sie ihn berührten oder ansprachen und er ihren faulen Atem riechen konnte. Der Zwölfjährige hatte sich weinend in eine Ecke verkrochen und von dort dem Sterben zugesehen. Um das schmerzerfüllte Stöhnen seiner Eltern und Geschwister nicht hören zu müssen, hatte er sich die Ohren zugehalten und unentwegt eine Melodie gesummt.
Der qualvolle Tod seiner Familie hatte das Herz von Jeremias verhärtet, seine Gefühle abgestumpft, und er wurde gegen den Schrecken, der sich in seinem Heim abspielte, gleichgültig. Am siebten Tag war zuerst seine Mutter, dann der Bruder gestorben; einen Tag später die kleine Schwester, und am neunten Tag der Vater, der bei seinem letzten Atemzug einen Schwall Blut erbrochen hatte.
Am Abend waren Männer gekommen, die Masken mit einem Krähenschnabel trugen. Ihnen entströmte der Geruch von
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