Das Pestzeichen
verschiedenen Kräutern, der sich im Raum ausbreitete. Die unheimlichen Gestalten besahen sich die Toten. Anschließend hatte einer von ihnen ein schwarzes Kreuz auf die Eingangstür gezeichnet. Jeremias wusste, dass es das Pestkreuz war – das Zeichen, das die Totengräber anwies, aus diesem Haus Pesttote zur Bestattung abzuholen.
Danach hatten die Männer wortlos den schreienden Knaben ergriffen und ihn mitgenommen. Sie sperrten Jeremias in ein fremdes Haus, wo er allein in einem kleinen Raum bleiben musste. Auch als sie ihm durch eine Luke Essen und Wasser gaben, sprach niemand mit ihm. Nur als sie ihm Minzblätter reichten, befahl eine barsche Stimme: »Kau die Blätter gründlich!«
Nach zehn Tagen der Einsamkeit betrat ein Krähenmann die Zelle und befahl, dass Jeremias sich nackt vor ihn hinstellen sollte. Eingeschüchtert zog der Junge seine Kleidung aus und tat, wie man ihm sagte. Er hob seine Arme und drehte sich mehrfach langsam im Kreis, sodass der Fremde jede Stelle seines Körpers prüfen konnte. Als der Mann mit dem Krähenschnabel keine Anzeichen der Seuche entdeckte, durfte Jeremias die Zelle verlassen. Der Knabe nutzte die Gelegenheit, riss aus und schlug sich von da an allein durchs Leben. Er war erwachsen geworden und hatte die Vergangenheit hinter sich gelassen.
Doch so sehr er sich dagegen wehrte, die panische Angst seiner Kindheit vor der Seuche war geblieben. Auch viele Jahre danach hörte er nächtens im Traum die Stimme seiner Mutter, wie sie nach ihm rief, und im Schlaf sah Jeremias, wie sie ihre spinnenbeinähnlichen dünnen Finger nach ihm ausstreckte. Bis an sein Lebensende würde er sich an den Geruch des kalten Schweißes in der Sterbekammer erinnern, ebenso wie er nie den Gestank des Eiters, der dick aus den dunklen Beulen der Sterbenden gequollen war, vergessen würde.
In seiner Verzweiflung hatte Jeremias im Laufe der Jahre viele verschiedene Heiler aufgesucht. Er hoffte auf ihr Wissen, wie er der Pestilenz vorbeugen könnte, doch keiner der Ärzte wusste Rat. Manch einer meinte, dass die Krankheit ihm nichts anhaben würde, schließlich hätte er seine Familie überlebt. Ein anderer äußerte die Ansicht, dass die Pest durch böse Luft übertragen wurde, und riet Jeremias, sich jeden Tag mit Wacholder einzuräuchern. Doch Jeremias traute der Wirkung des Krauts nicht und forschte weiter. Ein anderer Gelehrter erzählte ihm von Geißlerumzügen, die vor Hunderten von Jahren stattgefunden hätten. Dabei hatten sich, so der Bericht des Gelehrten, die Menschen die Köpfe mit einer Kapuze verhüllt und waren, nur mit einer Hose bekleidet, durch die Straßen gezogen. Mit einem Stock, an dem drei Stränge mit großen Knoten herabhingen, die mit nadelscharfen Stacheln in der Größe von Weizenkörnern gespickt waren, hatten sich die Geißler auf die entblößten Oberkörper geschlagen. Dann aber habe, wie Jeremias erfuhr, der höhere Klerus diese Selbstbestrafung verboten, da man den Geißlern unterstellte, dass sie in ihrem Wahn und ihrer Anmaßung einen schlechten Einfluss auf die Kirche hätten.
Damals hatte Jeremias sich einen solchen Stock angefertigt, denn obwohl er nicht recht glauben mochte, dass sich die Pest durch diese Bußübungen verhindern ließ, begann er sich dennoch heimlich zu geißeln. Bereits nach wenigen Malen war sein Rücken blau geschlagen und voller blutiger Streifen, und die gekalkten Wände seiner Kammer waren mit Blutspritzern übersät. Aber erst als Jeremias sich wegen der Schmerzen kaum noch auf dem Pferd halten konnte, ließ er von den Geißelungen wieder ab.
Da er lesen konnte, forschte er auch in den Büchern der Gelehrten und stieß durch Zufall auf eine Pestverordnung des Grafen Johann IV. von Saarbrücken aus dem Jahr 1574, in der angeblich die Meinung der ganzen Welt wiedergegeben wurde: »Wir laden den Zorn Gottes und Plagen auf uns durch Undankbarkeit, unbußfertiges Leben und Trägheit des Gebets.« Nun endlich glaubte Jeremias die Lösung zu kennen, und fortan zahlte er der Kirche in Sankt Johann eine beachtliche Summe, damit man für ihn Messen las und ihn in die Gebete einschloss.
Jeremias blieb gesund und überlebte selbst den langen Krieg unverwundet, was seine Überzeugung stärkte, dass der Herrgott ihn wegen seiner großzügigen Spenden verschonte.
Doch nun plagte ihn ein neues Problem. Seit Friede herrschte, gab es für Kämpfer wie ihn kaum noch Möglichkeiten, Geld zu verdienen. Da Jeremias keinen anderen Beruf als den des
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