Das Phantom im Netz
Seattle so schnell wieder verlassen zu müssen, hatte ich mir doch Gedanken darüber gemacht, wohin ich gehen würde, wenn ich meine Zelte irgendwann einmal wieder abbrechen musste. Austin, das als Technologiestandort bekannt war, war in der engeren Auswahl gewesen. Und Manhattan, weil es, nun ja, eben Manhattan war. Aber wie schon bei Denver hielt ich mich an die jährliche Rangliste der Zeitschrift Money der zehn besten Städte in Amerika. In jenem Jahr stand Raleigh in North Carolina ganz oben. Die Beschreibung klang verlockend: Die Menschen dort galten als freundlich und locker, die Stadt lag in einer ländlichen Gegend, und in der Ferne waren die Berge zu sehen.
Das Fliegen hatte mich schon immer gestresst, daher entschied ich mich auch dieses Mal für die Eisenbahn. So sah ich auch noch ein bisschen mehr vom Land. Nach meinem Zwischenstopp in Denver und dem Raubzug auf Shimmys Server stieg ich an Silvester als Michael Stanfill in einen Zug, der nach drei Tagen Fahrt Raleigh erreichen würde. Der Schlafwagen war teurer als ein Flug, aber die amerikanische Landschaft an mir vorbeiziehen zu sehen, erwies sich als einmalige Erfahrung.
An meinen Mitreisenden konnte ich schon mal meine Tarnung testen. Ich erzählte ihnen Episoden aus der Lebensgeschichte des Michael Stanfill. Als wir schließlich North Carolina erreichten, hatte ich mich an meine neue Identität schon perfekt gewöhnt.
Der Zug fuhr nach Einbruch der Dunkelheit in den Bahnhof von Raleigh ein. Ich hatte schon viel über den Süden gehört, über die Andersartigkeit der Leute, die eigene Kultur und darüber, dass alles in einem ruhigeren Tempo ablief. Vielleicht war der Ruf auch nur ein Relikt aus der Vergangenheit. Ich war gespannt darauf, es herauszufinden.
An jenem Abend erkundete ich den Norden von Raleigh zu Fuß, um ein Gefühl für die Stadt zu bekommen. Ich hatte erwartet, im Süden ein warmes, angenehmes Klima vorzufinden, aber es fühlte sich so kalt an wie in Denver. Ich fand heraus, dass im Winter in Raleigh etwa dieselben Temperaturen herrschten wie in der Stadt in den Rocky Mountains.
Bei meinem Rundgang kam ich an einer Filiale einer Restaurantkette, die ich kannte, vorbei: Boston Market. Nicht gerade typisch für die Südstaaten, aber ich ging trotzdem hinein.
Die Kellnerin war ein süßer Twen mit langem, dunklem Haar, einem herzlichen Lächeln und sprach mit einem breiten Südstaatenakzent, den ich für ausgestorben gehalten hatte. Sie begrüßte mich mit einem freundlichen: »Hi, wie geht‘s Ihnen?«
Ich warf einen Blick auf ihr Namensschild und antwortete: »Hey, Cheryl. Mir geht‘s hervorragend. Ich bin neu in der Stadt und zum ersten Mal in North Carolina.« Sie nahm meine Bestellung auf, und ich sagte: »Ich brauche eine Wohnung. Welchen Teil der Stadt würden Sie mir denn empfehlen?« Sie lächelte und sagte, sie käme gleich wieder.
Als sie mein Essen brachte, setzte sie sich mit zwei weiteren Kellnerinnen zu mir, und wir unterhielten uns, während ich aß. So etwas wäre in Los Angeles undenkbar gewesen. Oder in Seattle. Oder auch im weltoffenen Denver. Die Frauen meinten: »Wir wollen Ihnen einfach Gesellschaft leisten.« Ich war hin und weg von meinem ersten Vorgeschmack auf die Gastfreundschaft in den Südstaaten. Eine solche Freundlichkeit hatte ich noch nie erlebt. Die Frauen erzählten vom Leben in Raleigh. Sie sprachen über die verschiedenen Stadtteile, wo man am besten wohnte, wo man ausgehen konnte. In der Gegend herrschte immer noch der Tabakanbau vor, aber im nahe gelegenen Research Triangle Park gab es auch viele Hightechfirmen. Sie hauchten der Stadt neues Leben ein, und ich hielt das für ein gutes Zeichen, dass ich hier richtig war.
Nur eine Woche nach meiner Ankunft hatte ich eine schöne Wohnung im Nordwesten von Raleigh gefunden, in einer weitläufigen Wohnanlage namens »The Lakes«. Der Name sprach für sich, denn die mehr als 30 Hektar große Anlage grenzte an gleich zwei Seen. Es gab dort nicht nur einen 50 Meter langen Swimmingpool, Tennis- und Raquetballplätze, sondern auch zwei Volleyballfelder. Die Verwaltung hatte tonnenweise Sand herankarren lassen, um eine Strandatmosphäre zu schaffen. In The Lakes gab es außerdem jedes Wochenende Partys für alle Bewohner, und mir wurde gesagt, es sei immer eine sehr laute Angelegenheit mit vielen lächelnden Südstaatenschönheiten. Meine Wohnung war klein, aber was machte das? Mir kam alles wie ein Traum vor.
Ich ging zu einer kleinen
Weitere Kostenlose Bücher