Das Phantom im Opernhaus
Attacke starker Schmerzen heimgesucht, besiegte aber sein Verlangen, sich sofort wieder hinzulegen. Unter erheblichem Willens- und Kraftaufwand schaffte er es, sich aufrecht hinzusetzen. Er sah zum Schreibtisch hinüber, auf dem ein Telefon stand. Es kostete ihn große Überwindung, sich auf die Beine zu stellen. Tapsend und unsicher kam er voran. Die kurze Stecke bis zum Schreibtisch erschien ihm wie eine gewaltige Distanz.
Er stützte sich mit der einen Hand auf der Schreibtischplatte ab, fasste mit der anderen an seine pochende Stirn. Wieder brauchte er Zeit, um zu neuen Kräften zu kommen. Dann nahm er den Hörer ab und wartete auf das Freizeichen. Vergebens. Er tippte die Null ein, weil das vielleicht nötig war, um eine Amtsleitung zu bekommen. Doch der Apparat blieb tot. Paul bückte sich unter Mühen. Er verfolgte den Verlauf des Telefonkabels bis zur Buchse an der Wand. Was er sah, nahm ihm kurz den Atem: Das Kabel war herausgerissen und die Steckverbindung zertreten worden.
Niedergeschlagen sah sich Paul mit der Tatsache konfrontiert, dass er weder schnelle Hilfe rufen noch jemanden über die Gefahr informieren konnte, die ganz offensichtlich von Evelyn Glossner ausging. Auf der Suche nach einer weiteren Alternative ging er auf wackligen Beinen zur Tür, die ins Vorzimmer hinausführte, und öffnete sie. Vor ihm lagen der abgedunkelte, verwaiste Empfangsbereich und das Wartezimmer. Alles war mucksmäuschenstill. Er pausierte im Türrahmen, um dann den Weg bis zum Tresen der Sprechstundenhilfe hinter sich zu bringen. Wieder bedeutete das eine Tortur für ihn. Als er ankam, sah er die zentrale Telefonanlage der Praxis vor sich. Doch der Blick auf das unbeleuchtete Display genügte ihm, um zu erkennen, dass auch diese Verbindung nach außen gekappt worden war.
Mit wachsender Verzweiflung suchte er nach einem anderen Weg aus dieser Klemme. Schwankend steuerte er auf die Eingangstür und den rettenden Hausflur zu. Aber das Schloss war verriegelt. Keine Chance für Paul angesichts der massiven Tür und des nicht minder stabilen Sicherheitsschlosses.
Aber er wollte nicht kapitulieren! Zwar konnte er sich denken, dass auch die Fenster abgesperrt waren. Doch wenn gar nichts anderes half, würde er eine Scheibe einschlagen, um endlich Hilfe zu rufen!
Er fühlte, wie seine Kräfte wieder schwanden, doch er zwang sich dazu, zurück ins Arztzimmer zu gehen. Von dort wiesen die Fenster hinunter zur Straße, wo sicher ein Passant auf ihn aufmerksam werden würde.
Völlig erschöpft musste er auf halbem Weg eine Zwangspause einlegen. Erneut stützte er sich auf dem Schreibtisch der Psychologin ab und ließ kraftlos den Kopf hängen. Es war, als müssten sich seine Beine erst wieder an ihre Aufgabe erinnern. Sie wollten ihm nicht gehorchen. Außerdem fehlte ihm schlicht und einfach die Kraft, auch nur einen einzigen weiteren Schritt zu machen.
Er ließ sich in den Schreibtischsessel fallen, atmete schwer ein und aus. Nichts ging mehr. Was er dringend brauchte, war so etwas wie ein Energiekick. Etwas, das seinen Kreislauf in Schwung brachte. Er sah sich auf dem Schreibtisch um, hielt Ausschau nach etwas Essbarem. Hoffnungsvoll suchte er nach einem Bonbon, einem Schokoriegel oder wenigstens einem Stück Würfelzucker. Dabei zog er auch die Schubladen des Schreibtisches auf. Eine nach der anderen.
Und dann zögerte er: Seine Aufmerksamkeit wurde von einem Karteibogen erregt, der aus der untersten Schublade ragte. Paul zog ihn heraus und stellte ungläubig fest, dass auf dem Krankenblatt nicht der Name eines x-beliebigen Patienten verzeichnet war, sondern – der von Evelyn Glossner selbst.
Paul studierte mit wachsendem Staunen die Eintragungen: Es war die von ihr selbst verfasste Krankengeschichte der Glossner! Akribisch hatte sie ihre eigenen schweren psychischen Defekte diagnostiziert, darunter depressive Schübe, krankhaft ausgeprägte Minderwertigkeitsgefühle, unkontrollierte aggressive Ausbrüche …
Paul sog die Zeilen begierig ein. Auch wenn er viele Fachbegriffe nicht verstand, ahnte er, dass Evelyn Glossner Probleme hatte – große Probleme. Diese Probleme waren aber weder angeboren noch Bestandteil ihres Charakters. Sie setzten erst in einem ganz bestimmten Zeitraum ein! Paul stöberte weiter in den Unterlagen und stieß bald auf einen potenziellen Auslöser der Psychosen: Er lag der Krankenakte in Form eines 14 Jahre alten kopierten Polizeiprotokolls bei.
Fassungslos las Paul den Bericht, der den
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